Münchner Geschichte am 21. Juni, mal mit & mal ohne Krawall: Von 1947 über 1962 bis heute


Heute jährt sich zum 60. Mal der Beginn eines aufsehenserregenden jugendkulturellen Protestereignisses, das als “SchwabingerKrawalle” in die Geschichte eingegangen ist. Anlässlich des Jubiläums dieses fünf Nächte andauernden Straßenprotests wurde ich vor drei Wochen vom Bayerischen Rundfunk als „Krawall“-Experte ausführlicher interviewt. Hier der Link zu der Bayern2- Podcast-Folge aus der Reihe „Tatort Geschichte“, die zwei Geschichtsdidaktiker der LMU München letztes Jahr ins Leben gerufen haben:

https://www.br.de/mediathek/podcast/tatort-geschichte-true-crime-meets-history/weltstadt-mit-schmerz-die-schwabinger-krawalle-1962/1857216

Eingeladen war ich als einer der Mitautoren des 2006 im Klartext-Verlag erschienenen Buchs „‘Schwabinger Krawalle‘. Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre“, herausgegeben von Gerhard Fürmetz. Weitere Autoren des Buchs, zu dem Walter Ziegler das Vorwort verfasst hat, waren neben dem Herausgeber und mir noch Michael Sturm, Andreas Voith, Esther Arens und Margit Fürmetz.

Mittlerweile ist es auch schon wieder 20 Jahre her, dass Michael Sturm und ich unsere ersten “Krawall”-Forschungsergebnisse ganz gesittet und akademisch in der Bibliothek des Instituts für Bayerische Geschichte an der LMU vorgestellt haben – damals zum Protestjubiläum “vor 40 Jahren”. Ergebnis des 2002 gestarteten Projekts war 2006 der Klartext-Band, der auch in die Villa ten Hompel-Schriftenreihe aufgenommen wurde.

Mich hat es nun sehr gefreut, fast zwei Jahrzehnte nach diesen Protestforschungen an einer Folge des BR-Podcasts mitwirken einbringen zu können und Einschätzungen auf Basis meiner eigenen damaligen Erkenntnisse, die ich mir dafür noch einmal zu vergegenwärtigen hatte, einzubringen – ebenso wie auch die Erkenntnissen der anderen Buchautor:innen; v.a. über Michael Sturms Untersuchungen zur Rolle der Polizei habe ich in dem Podcast auch berichtet.

„Tatort Geschichte“ ist übrigens ein wirklich empfehlenswerter neuer Histo-Podcast von Bayern 2, der in Zusammenarbeit mit der Georg-von-Vollmar-Akademie produziert wird. „True crime meets history“ ist das Motto dieses Podcasts, der auf unterhaltsame Weise fundierte historische Informationen zu Themen der Zeitgeschichte und der Neueren Geschichte vermittelt. Seit 2021 bringen die beiden LMU-Geschichtsdidaktiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt die Podcastserie heraus. 35 Folgen, jeweils zwischen 30 und 60 Minuten lang, sind inzwischen erschienen.

60 Jahre „Schwabinger Krawalle“ – 75 Jahre Institut für Bayerische Geschichte: Noch ein Jubiläum wird in München heute gefeiert, zu dem sich sogar der bayerische Ministerpräsident Markus Söder höchstpersönlich in meiner Alma Mater angesagt hat. Anders als vor 60 Jahren dürfte dieser Auftritt heute Abend aber wohl ganz ohne „Studentenkrawall“ über die Bühne gehen – schaun mer mal…

Abbildungsquellen:
Abb. 1 u. 2: Gerhard Fürmetz (Hg.), “Schwabinger Krawalle”. Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre“, Essen: Klartext 2006, Cover (Ausschnitt) u. S. 15.
Abb. 3: https://www.br.de/mediathek/podcast/tatort-geschichte-true-crime-meets-history/weltstadt-mit-schmerz-die-schwabinger-krawalle-1962/1857216 (Screenshot 21.6.2022, 14 Uhr))
Abb. 4: https://www.bayerischegeschichte.uni-muenchen.de/aktuelles/veranstaltungen/75_jahre_institut/index.html (Screenshot 21.6.2022, 14 Uhr).

#GenugJETZT, @markus_soeder, zieh endlich die Notbremse!

PROTESTGEZWITSCHER GEGEN DAS HOCHINZIDENZ-JOJO: TEXTANREGUNGEN WIDER DIE BUND-LÄNDER-UNVERNUNFT

Ich weiß, es ist eigentlich zum Verzweifeln!

Besonnene Experten hatten ja schon seit Wochen gewarnt. Und nun ist alles genau so eingetreten: Die von der britischen Virusmutation B.1.1.7 getriebene dritte Corona-Welle kommt in Deutschland exponentiell in Schwung. In den letzten Tagen ist die Zahl der Neuinfektionen jeweils um mehrere Tausend gegenüber der Vorwoche in die Höhe geschnellt. Der Inzidenzwert, der vor vier Wochen noch bei 60 lag, erreicht in Deutschland nun bereits 85.[1] Die 100er Marke dürfte in der kommenden Woche gerissen werden.

Zuvor hatte die am 3. März einberufene letzte Bund-Länder-Runde entgegen aller Warnungen einen fünfstufigen „Perspektivplan“ verabschiedet, der Lockerungsmöglichkeiten bis zur Inzidenz 100 erlaubte.[2] Das erst nach stundenlangem zähem Ringen formulierte Kompromisspapier war dazu auch noch kompliziert und schlupflochreich gestaltet. Im Netz ernteten die Ministerpräsident:innen und die Kanzlerin dafür keineswegs unverdienten Spott.

Nun sollte aber jeder mit Verstand begabte Zeitgenosse meinen, dass die ganz offensichtlich wenig durchdachten, in den frühen Morgenstunden des 4. März der Presse präsentierten „Öffnungsperspektiven“ inzwischen wieder aus dem Blick geraten. Ging der Fünf-Stufen-Plan doch von der – freilich bereits Anfang März mehr als optimistischen – Grundannahme aus, dass die Coronalage in Deutschland bis Ostern stabil bleiben werde.

“Öffnungsperspektiven” entpuppen sich als Schließungsaussichten: Ostervorfreude auf den Lockdown 3

Denn eins ist doch bereits jetzt frühlingssonnenklar: Nach Weihnachten haben die Bund-Länder-Fehlentscheidungen nun auch Ostern lockdownmäßig verpfuscht. Die Frage ist jetzt nur noch, wie hoch die Inzidenzen vorher noch steigen werden und wie lange wir nachher wieder die Kontakte zu reduzieren haben.

So oder so stehen uns also mehrere Wochen im Oster-Lockdown 3 bevor – die Frage ist jetzt nur noch, wieviele. Frühestens im Mai werden wir hoffentlich wieder befreiter aufatmen können, wenn dann auch diese wieder, wie schon im November, verspätet und deshalb umso mühsamer abgebremste dritte Welle endlich hinter uns liegt und der beginnende Sommer uns zusammen mit Fortschritten beim Impfen hoffentlich weitere föderale Jojospiele erspart.

Lockerungsrausch im Inzidenzanstieg: Selbst an der Notbremse wird herumgeschraubt

Dennoch halten Deutschlands Länderfürst:innen momentan noch unverdrossen an den Lockerungsschritten des „Perspektivplans“ fest – oder wollen sogar noch weitergehen. Denn wie letzte Woche bekannt wurde, möchten Brandenburg und Sachsen-Anhalt die ab einer Inzidenz von 100 vorgesehene, deshalb in einigen Regionen eigentlich bereits zu aktivierende „Notbremse“ lockern.[3] Auch Nordrhein-Westfalen lehnt einen verpflichtenden Bremsautomatismus ab und will im Falle einer Überschreitung der 100er-Schallmauer erst einmal „die Umstände prüfen“.[4] Der gedachte Rettungsmechanismus des Fünf-Stufenplans wird so angesichts einer exponentiell steigenden Virusverbreitung ad absurdum geführt.

Thüringen: ein Dauer-Hotspot brät sich Extrawürste

Schon seit Monaten anders gehen die Uhren in Thüringen. Dort hält sich die Inzidenz nun schon seit November über hundert – aktuell beträgt sie 168. Im Januar hatte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow noch Aufsehen erregt mit seinem späten, aber getreulichen Eingeständnis, die Lage im vergangenen Herbst falsch eingeschätzt zu haben.[5]

Tätige Reue ist aber offenbar nicht Ramelows Ding. Denn nun lässt er die Inzidenzwerte, die vor einem Monat kurz an der 100er-Marke kratzten, wieder auf neue Rekordwerte klettern, ohne mit „umfassenden Maßnahmen […], die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen“,[6] gegenzusteuern, wie es laut Infektionsschutzgesetz eigentlich vorgeschrieben wäre.

Im Gegenteil: Auch in Thüringen gelten ab dieser Woche wie andernorts zusätzliche Lockerungen im Geschäftsbereich.[7] Und Schulen können sogar bei Höchstinzidenzen weiter geöffnet bleiben, solange die Behörden vor Ort das noch gutheißen. Denn die Landesregierung beschränkt sich lediglich auf eine unverbindliche „Empfehlung“, oberhalb vom Inzidenzwert 150 doch besser zu schließen.[8]

Das Prinzip der lokalen Eigenverantwortlichkeit, auf welches das Green-Zone-Modell der NoCovid-Niedriginzidenz-Strategie setzen möchte, ist in Thüringen so zu einem Art HighCovid-Red-Zone-Konzept pervertiert: Kreise und Städte dürfen seit dem Wochenende selbstverantwortlich (oder -verantwortungslos?) entscheiden, wie weit sie bei der COVID-19-Durchseuchung der Bevölkerung gehen wollen.

Schon erstaunlich, zu was für einem zahnlosen Papiertiger der oben zitierte Paragraph 28a des deutschen Infektionsschutzgesetzes inzwischen verkommen ist – besonders, wenn man bedenkt, dass AfD-Politiker diesen am 18. November eilig durchs Parlament geschleusten Zusatzparagraphen in Brandreden vor dem Reichstag noch als „Ermächtigungsgesetz“ gegeißelt hatten.

Kapitulieren vor all der Unvernunft? So schnell zwitschern wir nicht ab…

Man könnte bei so viel Unvernunft der Politik wirklich verzweifeln!

Ich habe mich aber anders entschieden und beschlossen, mich lieber aktiv für einen öffentlichen Sinneswandel zurück zur Vernunft einzusetzen. Dazu habe ich eine Tweet-Serie verfasst mit Protestnachrichten, in denen ich mich an den bayerischen Ministerpräsidenten und an den Regierungssprecher von der Bundeskanzlerin gewandt habe – Merkel selbst simst zwar gerne, zwitschert aber im Gegensatz zu Söder nicht persönlich.

Bei dem Kurznachrichtendienst mit dem blauen Vögelchen im Logo kann man zwar pro Tweet nur 280 Zeichen schreiben, aber es gibt die Möglichkeit von Tweetserien, um etwas längere Texte zu versenden. Erfreulicherweise sind meine beiden Kurznachrichten-Serien an Söder und Merkel in den vergangenen Tagen auf einen für meine bescheidenen Mikroblogger-Verhältnisse erstaunlich großen Zuspruch gestoßen. Die Anfangstweets kamen nämlich auf jeweils über 10.000 Views. Ich selbst habe zwar nur 875 Follower, aber meine Söder zugezwitscherten Texte wurden über hundert Mal per Retweet von anderen Usern an ihre Follower weiterverbreitet.

Neben solchem Protestgezwitscher gibt es natürlich auch noch viele andere geeignete Formen, um der Öffentlichkeit und/oder den politisch Verantwortlichen seine Meinung kundzutun. So könnt ihr über die Protest-Plattform „WeAct“ sehr einfach eine Online-Petition initiieren und anschließend z.B. via Social Media weiterverbreiten.[9] Oder ihr schreibt Politiker:innen auf Facebook per Kommentar oder Messenger direkt an. Noch nachdrücklicher wäre es, wenn ihr ihnen eine Mail schickt oder ganz förmlich einen Protestbrief per Post versendet.

Für den Fall, dass ihr eine Textvorlage zur Anregung gebrauchen könntet, dürft ihr euch gerne von meinen Tweets inspirieren lassen. Deren Wortlaut stelle ich nachfolgend als Fließtext leicht umgearbeitet zur freien Verfügung.

Verfrühte Lockerungen stoppen, für sichere Bildung sorgen!

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Söder,

in den letzten vier Wochen, zwischen Mitte Februar und Mitte März, ist der Corona-Inzidenzwert für Bayern von 56 auf 90 gestiegen. Die 100er-Marke wird so wohl schon in dieser Woche überschritten. Zeigen Sie deshalb Verantwortung und beenden Sie in Bayern die verfrühten Lockerungen umgehend.

Stoppen Sie insbesondere die für die kommende Woche geplante Öffnung der Schulen. Sichere Bildung, wie das Hashtag-Motto mehrerer Elterninitiativen lautet, muss die Maßgabe sein, was ohne ausgereiftes Testkonzept (Test-Trace-Isolate, TTI) und erhebliche Fortschritte beim Impfen nicht gewährleistet ist.

Nachhaltige Lockerungen sind mit dem differenzierten Niedriginzidenzkonzept NoCovid möglich. Sie könnten in lokal begrenzten „Green Zones“ sogar ohne langen Einheits-Lockdown bald beginnen. Anerkannte Wissenschaftler, so unter anderem auch an der LMU München lehrende Wirtschaftsexperten des ifo-Instituts, stehen hinter dem Konzept – nähere Informationen finden sich auf der folgenden Webseite: https://nocovid-europe.eu.

Herr Ministerpräsident, setzen Sie sich bitte dafür ein, dass Schaden von der bayerischen Bevölkerung abgewendet wird. Das kann aber nur gelingen, wenn in dieser kritischen Phase zu Beginn der dritten Welle die Lockerungen rasch wieder gestoppt werden.

Mit freundlichen Grüßen

https://twitter.com/Muenchen1968/status/1370784455640674305

Die dritte Welle jetzt abfangen und den Stufenplan revidieren!

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

am 3. März hat die Bund-Länder-Corona-Runde die „Öffnungsperspektive in fünf Schritten“ beschlossen, die in den folgenden Wochen Lockerungen auch bei erhöhten Inzidenzwerten zwischen 50 und 100 vorsahen. Nun ist der Inzidenzwert in Deutschland gerade in den letzten Tagen sprunghaft angestiegen und erreicht bereits wieder den Wert von 85. Da sich so offensichtlich der Fünf-Schritte-Plan als Fehler erweisen hat, sollte er rasch wieder revidiert werden.

Die aktuelle Lage erfordert deshalb ein zügiges Vorziehen der nächsten Bund-Länder-Runde. Ein Abwarten bis zum 22. März wäre in der jetzigen Lage einer beginnenden dritten Welle verhängnisvoll. Dies gilt umso mehr, als bereits einige Länder angekündigt haben, die in den „Öffnungsperspektiven“ vorgesehene „Notbremse“ beim Überschreiten der Inzidenz 100 zu ignorieren oder umzuinterpretieren.

Bislang sind Sie, Frau Dr. Merkel, für verantwortungsvolles Handeln in dieser Pandemiekrise eingetreten. Dennoch misslang das Gegensteuern gegen die zweite Welle, was viele zusätzliche Corona-Tote zur Folge hatte. Dieser schwere Fehler vom letzten Herbst darf nicht wiederholt werden.

Noch sind die meisten Menschen der Risikogruppe 2 ungeimpft. Dazu ist inzwischen die Gefahr, die von dem LongCovid-Syndrom ausgeht, auch für jüngere Corona-Patienten wissenschaftlich belegt. Die verfrühten Lockerungen in die beginnende dritte Welle hinein drohen deshalb nochmals ähnlich viel Leid wie im letzten Winter mit sich zu bringen.

Selbst wenn die Krankhauskapazitäten ausreichen, ist eine Strategie der Teildurchseuchung der größtenteils ungeimpften Bevölkerung unverantwortlich. Die Menschen wünschen sich laut Umfragen mehrheitlich ein vorsichtiges Vorgehen und lehnen übereilte Lockerungen ab.

Ein verantwortungsvoller neuer Stufenplan, wie in etwa die Göttinger Physikerin Viola Priesemann vorschlägt, muss bei niedrigeren Inzidenzwerten als der Fünf-Schritte-Plan ansetzen. Nötig ist eine Beschleunigung des Impftempos und ein durchdachtes Testkonzept nach den Grundsätzen Test-Trace-Isolate (TTI).

Nachhaltige Lockerungen sind mit dem differenzierten Niedriginzidenzkonzept NoCovid möglich. Sie könnten in lokal begrenzten „Green Zones“ sogar ohne langen Einheits-Lockdown bald beginnen. Anerkannte Wissenschaftler:innen wie die Braunschweiger Virologin Melanie Brinkmann oder der Chef des Münchener ifo-Instituts Clemens Fuest stehen hinter dem Konzept – nähere Informationen finden sich auf der folgenden Webseite: https://nocovid-europe.eu.

Frau Bundeskanzlerin, setzen Sie sich bitte dafür ein, dass Schaden von der Bevölkerung unseres Landes abgewendet wird. Das kann aber nur gelingen, wenn in dieser kritischen Phase zu Beginn der dritten Welle die Lockerungen gestoppt werden.

Mit freundlichen Grüßen

Und jetzt seid ihr dran!

Wer ähnlicher Meinung ist, darf sich gerne für entsprechende Protestnachrichten bei meinen Tweets oder den obigen beiden Briefvorlagen bedienen. Ich erhebe kein Copyright – auch Copy&Paste in Guttenbergscher Manier ist erlaubt, wenn es nur dem guten Zweck dient. Hauptsache, es ändert sich bald etwas an diesem verhängnisvollen Hineinrennen in die dritte Welle.

Denn für den Fall, dass es so ungebremst nach „Perspektivplan“ weitergeht, werden uns die schlimmen Zustände wie an Weihnachten noch mal zu Ostern drohen. Und das wollen wir doch alle nicht.

Also, auf geht’s, schreibt Protestnachrichten an Angela Merkel, Markus Söder, andere Ministerpräsident:innen oder Politiker:innen eurer Wahl! Sehr wirkungsvoll kann es beispielsweise auch sein, sich an die lokal Verantwortlichen vor Ort, etwa die Bürgermeisterin oder den Gesundheits- oder Bildungsdezernenten oder an die Abgeordnete im Wahlkreis zu wenden. Denn die Lokalprominenz wird sich mehr als die Bundeskanzlerin verpflichtet fühlen, euch auch persönlich eine Antwort zu geben. Am Besten wäre es, wenn ihr dabei in eurer Nachricht gezielt auf die Verhältnisse bei euch vor Ort eingeht.

Lassen wir also mit möglichst vielen Protestnachrichten die politisch Verantwortlichen in den nächsten Tagen spüren, dass sie mit der derzeitig realisierten Corona-Politik eines gefährlichen Hochinzidenz-Jojo aus verfrühten Lockerungen sowie verspäteten und halbherzigen Lang-Lockdowns auf Widerstand stoßen. Die in dem Bund-Länder-Perspektivplan vom 3./4. März vorgesehene Notbremse muss jetzt umgehend und wirkungsvoll gezogen werden – je eher, desto besser.

Sicher scheint es fast zum Verzweifeln, aber zum Aufgeben ist es doch noch zu früh!

Anmerkungen:

[1] Die in diesem Beitrag genannten Zahlen zu COVID-19 sind, soweit nicht anders vermerkt, sämtlich aus dem Coronavirus-Monitor der Berliner Morgenpost entnommen (Stand 15.3.2021, 13 Uhr): https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit. Als Datenquelle werden hier angegeben: Johns Hopkins University CSSE (internationale Daten von WHO, CDC (USA), ECDC (Europa), NHC, DXY (China), Risklayer/Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Meldungen der französischen Ämter und der deutschen Behörden (RKI sowie Landes- und Kreisgesundheitsbehörden).

[2] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/fuenf-oeffnungsschritte-1872120.

[3] Die Gefahr, die Notbremse zu spät zu ziehen, ZDFheute 9.3.2021, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-notbremse-inzidenz-100.html.

[4] Corona-Infektionen steigen – NRW hält ungebremst an Lockerungen fest, tagesschau 13.3.2021, https://www.tagesschau.de/regional/nordrheinwestfalen/wdr-story-39313.html.

[5] „Die Kanzlerin hatte Recht, und ich hatte Unrecht“, in: FAZ 7.1.2021, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bodo-ramelow-gesteht-fehler-im-kampf-gegen-corona-17135034.html.

[6] So der Wortlaut von § 28a IfSG hinsichtlich der zu ergreifenden Maßnahmen bei Überschreitung des Grenzwertes von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche.

[7] Kosmetikstudios, Solarien, Kinderschuh-Anbieter öffnen, insuedthueringen.de 15.3.2021, https://www.insuedthueringen.de/inhalt.thueringen-neue-corona-verordnung-bibliotheken-und-solarien-oeffnen.3ab4c1ff-6eb9-42a5-8dfb-7276df1c059a.html.

[8] Schulen auf oder zu? Landkreise und kreisfreie Städte entscheiden nun selbst, mdr Thüringen 13.3.2021, https://www.mdr.de/thueringen/landkreise-entscheiden-schulen-offen-geschlossen-100.html.

[9] https://weact.campact.de/.

#NoCovid: Eine australische Corona-Strategie findet ihren Weg nach Deutschland

Wie müde sind wir alle von diesem Winter-Lockdown! Und doch befindet sich Deutschland trotz momentaner Besserung der Coronalage schon wieder am Beginn einer dritten, diesmal von neuen Virusmutationen getriebenen COVID-19-Welle, die es abzufangen gilt. Statt ersehnter Lockerungen stehen uns also weitere Wochen der landesweiten Kontaktbeschränkungen bevor. Doch geht es auch anders? NoCovid heißt eine alternative Strategie, die auf regional begrenzte Corona-befreite „Grüne Zonen“ setzt. Mit ihr soll auf der Ebene der Städte und Landkreise ein nachhaltiger Weg aus dem Lockdown-Jojo gefunden werden, das wir nun seit Monaten erleben. Aber welche Köpfe stecken eigentlich hinter diesem neuen Masterplan? Was bedeutet er konkret? Und kann NoCovid überhaupt im dicht bevölkerten Mitteleuropa funktionieren?

Deutschland Ende Februar 2021: Wenngleich die Vorfrühlingssonne seit Tagen das Land verwöhnt, bleiben die Aussichten für die kommenden Monate trübe. Ein Jahr hat die COVID-19-Pandemie das Land schon im Griff, und aufgrund des Schneckentempos bei der Ende Dezember begonnenen Corona-Impfkampagne wird sich daran 2021 wohl nur sehr langsam etwas ändern.

Harter Shutdown, Sommerfreiheiten und verpatzter Lockdown 2 – ein wechselvolles Jahr der Corona-Bekämpfung im Rückblick

Dabei war doch die erste Corona-Welle im vergangenen Frühjahr mit einem harten Shutdown kurz und erfolgreich bekämpft worden. Und darauf folgte ein halbwegs erträglicher Sommer mit einer relativ geringen Virusverbreitung – unter Maßgabe von Abstands- und Hygieneregeln konnte sich das öffentliche Leben so zwischen Juni und September zu einem Gutteil wieder normalisieren. Doch als im Herbst, wie von Epidemiologen vorhergesagt, die Zahl der Neuinfektionen wieder stieg, missriet die Bekämpfung der zweiten Corona-Welle. Erst warteten die politisch Verantwortlichen zu lange damit, Kontakteinschränkungen zu verhängen. Dann wurden – was sich im Nachhinein als der verhängnisvollste Fehler des Jahres herausstelle – zu spät die nur unzureichend wirksamen Maßnahmen des „Lockdown light“ zum „Lockdown 2“ verschärft. So stieg die Infektionsrate im Dezember bis auf eine landesweite Inzidenz von beinahe 200. Fast 60.000 Menschen fielen der in dieser Schwere eigentlich für Deutschland vermeidbar gewesenen zweiten Corona-Welle zum Opfer.

Nach mehr als zwei Monaten im „Lockdown 2“ hat sich die Verbreitung von COVID-19 inzwischen zum Glück wieder verringert. Mit durchschnittlich knapp 8000 Neuinfektionen pro Tag und einem Inzidenzwert von 67 liegen die Zahlen aber noch deutlich über der angestrebten Marke:[1] Die Regierenden in Bund und Ländern hatten zunächst als Zielwert eine Inzidenz von 50 erkoren, dann aber auf der vorletzten Ministerpräsidentenkonferenz auf 35 abgesenkt. Eine Zahl von wöchentlich maximal 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner ist als Schwellenwert auch in dem 2020 geänderten Bundesinfektionsschutzgesetz enthalten, wobei diese Festsetzung nicht unumstritten ist. Denn von Experten wird bezweifelt, dass eine vollständige Rückverfolgung von Infektionsketten bei einer so hohen Inzidenz möglich ist.[2]

Verfrühte Lockerungen trotz erhöhter Inzidenzen: Lockdownmüdigkeit und Nervenflattern

Die Verschärfung des Ziel-Inzidenzwerts auf 35 hat mit der geänderten Gefahrenlage zu tun, die sich aus der Verbreitung von neuen, aus Großbritannien und Südafrika direkt oder über Nachbarländer nach Deutschland eingeschleppten Virusmutationen ergibt. Denn der Ansteckungsgrad der fraglichen Mutationen B.1.1.7 und B.1.351 wird im Vergleich zum bislang noch in Deutschland vorherrschenden Wildtyp von SARS-CoV-2 als höher eingestuft. Nachdem der rückläufige Trend bei den täglichen Neuinfektionszahlen zum Stillstand gekommen ist und sich sogar wieder ins Gegenteil zu verkehren beginnt, wächst die Sorge vor einer neuen, nun vor allem von der britischen Mutation getriebenen Corona-Welle.

Insofern muss es erstaunen, dass ungeachtet dessen Forderungen nach Lockerungen des „Lockdowns 2“ die Debatten weiter bestimmen. Erste Schritte waren bereits auf der letzten Ministerpräsidentenkonferenz verabredet worden: Zunächst wurden in fast allen Bundesländern die Grundschulen und Kitas vollständig oder mit verkleinerten Gruppen im Wechselbetrieb geöffnet. Morgen, am 1. März, werden dann bundesweit Friseursalons wieder öffnen. Vor der nächsten, eigentlich für die Koordinierung weiterer Schritte vorgesehenen Bund-Länder-Runde in der kommenden Woche preschen nun einige Ministerpräsident:innen mit weiteren Lockerungen vor: Unterricht für Abschlussklassen, Öffnung von Kosmetik- und Nagelstudios, von Blumenläden, Garten- oder Baumärkte, von Zoos oder Museen sowie die Zulassung von Freischankflächen – vieles ist im Gespräch, anderes regional schon in die Wege geleitet.[3] Irritierend daran ist, dass das reale Infektionsgeschehen vor Ort nicht immer das entscheidende Kriterium zu sein scheint, sondern eher das Nervenflattern der Länderchefs. So öffneten ausgerechnet zwei Bundesländer mit überdurchschnittlich hohen Inzidenzwerten mit als Erste ihre Grundschulen für den Vollbetrieb: Sachsen (Inzidenz: 90) und Thüringen, mit 129 republikweiter Inzidenz-Spitzenreiter.

Vorbild Österreich? Pandemiepopulismus nach Art des Sebastian Kurz

Freilich ist die in der Bevölkerung wie unter den Regierenden um sich greifende Lockdownmüdigkeit nach den monatelangen Kontakteinschränkungen verständlich. Fatal wäre es jedoch, wenn das derzeitige Motivationstief dazu führen würde, dem in die dritte Welle startenden Virus freien Lauf zu lassen. Rechte Populisten – Trump und Bolsonaro – waren die ersten, die sich letztes Jahr diese Politstrategie zu Eigen gemacht haben. „Mit dem Virus leben“ wurde gerne als Überschrift dafür gewählt, wenngleich es ehrlicherweise „Mit dem Virus leben und sterben“ hätte heißen müssen. Verantwortungsloser Pandemiepopulismus, der mit dem Leben der Risikogruppen Roulette spielt, findet sich aber auch bei Rechtsliberalen oder Sozialdemokraten, wie die Beispiele der Niederlande und Schwedens gezeigt haben. Aktuell wandelt ein junger Shootingstar der konservativen Mitte, Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, auf diesem bequem erscheinenden Pfad: Dass bei Inzidenzen von über 100 schon Anfang Februar wieder Schluss mit dem Winter-Lockdown der Alpenrepublik war, begründete Kurz mit dem wachsenden Unmut in der Bevölkerung: “Egal, ob in Österreich oder in Deutschland oder anderswo in Europa: Jedem reicht’s schon langsam.” Und den inzwischen gemessenen Anstieg der Neuinfektionen (aktuelle Inzidenz: 156) versucht Kurz folgendermaßen schönzureden: Immerhin sei die Zunahme doch „langsamer als zum Beispiel in Irland oder Portugal, wo die Zahlen ja explosionsartig gestiegen sind.“[4]

Derartigen Pandemiepopulismus wird man Angela Merkel nicht vorwerfen können. Die Kanzlerin möchte möglichst keine weiteren Lockerungen zulassen, bis eine ausreichende Eindämmung des Infektionsgeschehens erreicht ist. Fraglich ist nur, ob sich dieser Kurs, der im Januar unter dem Eindruck von täglich tausend Coronatoten Konsens war, immer noch durchsetzen lässt. Denn zweifellos kann wirksamer Seuchenschutz in einer Demokratie nur schwer gegen den erklärten Willen eines Großteils der Bevölkerung durchgedrückt werden.

Vorbild Australien: Ist die Zeit reif für einen Strategiewechsel in Deutschland?

Ein Ausweg aus dieser schwierigen Lage könnte ein mutiger Schritt sein, den Australien bereits im vergangenen Sommer gegangen ist: Der Strategiewechsel von der bloßen Eindämmung der massenhaften Verbreitung von SARS-CoV-2 zu seiner weitgehenden Eliminierung.[5] Es mag zunächst widersprüchlich klingen, ausgerechnet in der jetzigen Lage diese unter dem Twitter-Hashtag #NoCovid bekannt gewordene Strategie ins Spiel zu bringen. Doch eröffnet sie aufgrund ihrer Fokussierung auf Fortschritte in regionalen oder lokalen Einheiten eine Perspektive für eine nachhaltige Normalisierung des öffentlichen Lebens und damit für ein Ende des ermüdenden Lockdown-Jojos.

Während in Australien bereits bald nach der ersten Welle dieser Strategiewechsel vollzogen wurde, wird eine derartige Vorgehensweise in Europa erst seit Ende des vergangenen Jahres vermehrt diskutiert. Zwar war schon in den Monaten davor immer wieder über die Erfolge in der Pandemiebekämpfung berichtet worden, die Länder des Pazifikraums vorzuweisen haben. Zumeist richtete sich die Perspektive aber auf Südostasien und es überwog dabei der Tenor, dass Rezepte aus Staaten wie China, Taiwan oder Korea auf die Gegebenheiten in Europa schwer übertragbar seien.

Der alte Kontinent entdeckt pandemisch den Pazifik neu: der Aufruf im „Lancet“ vom 18.12.2020

Am 18. Dezember lancierten dann aber führende europäische Corona-Experten einen Aufruf, in dem sie unter dem Eindruck des Europa schwer beutelnden Corona-Winters einen radikalen Strategiewechsel bei der Bekämpfung der Pandemie nach Vorbild der Länder im Pazifikraum forderten. Von einer zwanzigköpfigen Autorengruppe, zu der die Physikerin Viola Priesemann, die Virologin Melanie Brinkmann und der am ifo-Institut forschende Makroökonom Andreas Peichl gehörten, wurde hierzu in der Medizinzeitschrift „The Lancet“ ein Papier unter der Überschrift „Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections“ verfasst, das über 300 Wissenschaftler:innen unterstützten. Ihren Namen unter den Aufruf setzten unter anderen der Charité-Virologe Christian Drosten, RKI-Präsident Lothar Wieler, der Soziologe Armin Nassehi, der Leiter des Ifo-Instituts Clemens Fuest, der System-Immunologe Michael Meyer-Hermann und der Medizinphysiker Matthias Schneider.[6] Gefordert wurde in dem Text eine nachhaltige Reduzierung der COVID-19-Fallzahlen in Europa. Aufgrund der Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 reiche es nicht aus, sich vorrangig auf die Belastungsgrenzen der Gesundheitssysteme zu fokussieren. Vielmehr müsse zur Rückgewinnung der Kontrolle über die Virusverbreitung ein niedriger Grenzwert im Bereich einer Wocheninzidenz von nur zehn Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner angestrebt werden.

Die Grundidee dieses Konzepts stammte dabei aus einem Lancet-Paper, das fünf Wochen zuvor unter Mitwirkung von Viola Priesemann erschienen war.[7] Darin wurde anhand von Großbritannien, das gerade von der zweiten COVID-19-Welle heimgesucht wurde, diskutiert, welche Bausteine für eine nachhaltige Pandemie-Strategie nötig sein, mithilfe derer dauerhaft die Kontrolle über das Infektionsgeschehen wiedererlangt werden könne.

Wesentliche Eckpunkte der NoCovid-Strategie waren so bereits Ende 2020 im „Lancet“ formuliert worden. Medienwirksam aufgegriffen wurden diese Ideen dann bereits am 12. Januar von einer Initiative, die sich für einen „solidarischen ZeroCovid-Strategiewechsel“ einsetzte und dafür mit einer europaweiten Online-Petition warb. Unter dem Slogan „#ZeroCovid“ fand sie auf der Plattform „WeAct“ rasch gut 100.000 Unterstützer. Die Autor:innen dieses Aufrufs, zu dessen Erstunterzeichnenden neben Beschäftigten des Gesundheitssektors auch prominenten Namen aus der Kultur, den Medien und den Hochschulen zählten, formulierten als Zielsetzung, „die Ansteckungen auf Null zu reduzieren“, wozu ein Shutdown als „solidarische Pause von einigen Wochen“ nötig sei. Im Anschluss daran müssten niedrige Fallzahlen „mit einer Kontrollstrategie stabil gehalten und lokale Ausbrüche sofort energisch eingedämmt werden“.[8]

#NoCovid will nicht #ZeroCovid sein: das Konzept der Wissenschaftlergruppe um Melanie Brinkmann und Clemens Fuest

Wenige Tage später meldete sich eine vierzehnköpfige Gruppe von Wissenschaftler:innen mit einem neuen Papier öffentlich zu Wort. Fünf von ihnen hatten bereits den Lancet-Aufruf vom 18.12. mitverfasst oder unterstützt, nämlich die Virologin Brinkmann, der System-Immunologe Meyer-Hermann, der Medizinphysiker Schneider sowie die ifo-Ökonomen Fuest und Peichl. Zusätzlich unterstützt wurden sie von weiteren Professor:innen anderer Fachrichtungen wie etwa dem Soziologen Heinz Bude, der Politologin Elvira Rosert oder dem Pädagogen Menno Baumann. Die 14 Wissenschaftler:innen versuchten sich bereits durch die Verwendung eines neuen Hashtags, nämlich #NoCovid, später noch ergänzt durch #YesToNoCovid, in den sozialen Medien von dem #ZeroCovid-Aufruf sprachlich deutlich abzugrenzen. Das hatte zum einen parteipolitische Gründe, da der #ZeroCovid-Aufruf überwiegend von linksorientierten Kräften unterstützt wurde, während die #NoCovid-Initiatoren lagerübergreifend Verbündete finden wollten. Zum anderen lehnten die #NoCovid-Autor:innen einen nochmaligen europaweiten harten Shutdown, wie er von #ZeroCovid gefordert wurde, aufgrund der hohen volkswirtschaftlichen Kosten ab.

Angelehnt an die praktischen Vorbilder in Australien und Neuseeland veröffentlichte die Autorengruppe um Melanie Brinkmann und Clemens Fuest so in zwei Schritten ihre Ideen zu einer #NoCovid-Strategie für Deutschland. Am 18. Januar publizierte sie zunächst ein Rahmenpapier unter dem Titel „Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2“, dem am 10. Februar dann eine ausführlichere Darstellung von „Handlungsoptionen“ folgte.[9]

NoCovid basiert nicht auf der Ausrottung des Virus, sondern auf einer kontrollierbaren Niedriginzidenz

Dass die #NoCovid-Gruppe in ihrem Grundansatz mit der von ihnen kritisierten #ZeroCovid-Initiative durchaus kompatibel ist, zeigt sich allerdings bereits in der Formulierung ihres Kerngedankens:

„Unsere Strategie umfasst eine Abkehr von der bisher verfolgten Eindämmungsstrategie (“mit dem Virus leben”). Wir schlagen Ideen und Ansätze für eine proaktive lokale Eliminationsstrategie vor, die das Ziel einer nachhaltig niedrigen Inzidenz – im Idealfall null – verfolgt.“[10]

Als konkreten Inzidenz-Grenzwert greifen die Autor:innen dabei die Zahl auf, die schon in dem Lancet-Aufruf vom 18. Dezember genannt war, also maximal zehn Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner wöchentlich. Entscheidend sei aber vor allem, dass es zu keiner unkontrollierten Virenverbreitung mehr komme. Solange bei Neuinfektionen eine Nachverfolgung möglich bleibe und Infizierte sowie ihre Kontaktpersonen unter Quarantäne gestellt bzw. zügig getestet werden, gelten sie auch im NoCovid-Modell noch als unproblematisch. Es geht also nicht um eine Ausrottung des Virus, sondern um die Rückgewinnung der vollständigen Nachverfolgungsmöglichkeit, die nach Einschätzung der Wissenschaftlergruppe aber nur bei einem sehr niedrigen Inzidenzwert möglich ist.

Weitgehende Eliminierung des Virus in regional begrenzten Zonen: So könnte NoCovid praktisch vor Ort funktionieren

Eine Inzidenz von unter 10 bundesweit zu erreichen, erscheint allerdings schwierig, wenngleich die Sommermonate 2020 gezeigt haben, dass das nicht unmöglich ist. Jedoch geht es im NoCovid-Modell bei der Erreichung eines Zustands der weitgehenden SARS-CoV-2-Elimination nicht gleich um das ganze Land, sondern um kleinere politisch-geografisch zusammengehörende Zonen – für Deutschland bietet sich hierzu die Ebene von Landkreisen, größeren Städten oder Metropolregionen an. In jeder dieser Zonen soll zunächst das Inzidenzziel von 10  erreicht werden. Ist das geschafft, gilt eine Zone als „gelb“ und kann mit vorsichtigen Lockerungen von Kontakteinschränkungen beginnen.

Sofern dieser Zustand über zwei Wochen zu keinen COVID-19-Neuinfektionen unbekannten Ursprungs führt, wechselt der Status der Zone auf „grün“. Nun kann unter Maßgabe von verbesserten Schutzmaßnahmen (AHAL-Regeln sowie insbesondere intensivierte Testroutinen) das öffentliche Leben wieder schrittweise normalisiert werden – ähnlich, wie wir es im vergangenen Sommer erlebt haben.

Dithmarschen und Kaufbeuren wären die ersten Gelbe Zonen

Aktuell gäbe es in Deutschland allerdings nur zwei Kreise, die sich aufgrund von Inzidenzen unter 10 umgehend zur Gelben Zone erklären und mit vorsichtigen Lockerungen beginnen könnten: Dithmarschen an der Nordseeküste und Kaufbeuren in Bayerisch-Schwaben. Dazu kämen aber noch fünf weitere Kreise, die diesem Ziel bereits so nahe wären, dass es dort mit etwas zusätzlichem Einsatz schon binnen ein oder zwei Wochen erreichbar schiene, und zwar in Kaiserslautern (7-Tages-Inzidenz 11), Donau-Ries und Lüchow-Dannenberg (beide 12), Schweinfurt (15) sowie Kusel (19).[11]

Weitere Gebiete mit Inzidenzen im niedrigeren zweistelligen Bereich (unter dem Wert 35 liegen momentan 56 Kreise, viele davon im Süden der Republik) könnten es ebenfalls innerhalb von wenigen Wochen schaffen, nicht mehr als im Lockdown befindliche „rote Zone“ gelten zu müssen. Nötig wären hier vermehrte gemeinsame Anstrengungen zur Senkung des R-Wertes – dazu gehört neben Kontakteinschränkungen und einer konsequenten Umsetzung der AHAL-Regeln natürlich auch besonders effektive Test-, Tracing und Isolationsstrategien (TTI) sowie eine möglichst zügige Erhöhung der Impfrate.

Denn genau darauf zielt der NoCovid-Ansatz ab: Dass überschaubare regionale Einheiten ein klares Ziel vor Augen haben, um Bürger:innen und politisch Verantwortlichen verstärkt zu motivieren, alle verfügbaren Möglichkeiten zur Senkung und zur vollständigen Kontrolle des Neuinfektionsgeschehens zu ergreifen, bis der Status einer Grünen Zone erreicht ist.

NoCovid contra Sisyphos: die Kontrolle der Mobilität zwischen Roten und Grünen Zonen

Neben der Mobilisierung der Pandemiebekämpfung in regional überschaubare Einheiten ist die Kontrolle der Mobilität ein wesentlicher Bestanteil des NoCovid-Modells. Denn um die in einer Grünen Zone erreichte vollständige Kontrolle des Neuinfektionsgeschehens zu erhalten, gilt es zu vermeiden, dass infizierte Personen von außen das Virus wieder neu in die Grüne Zone einschleppen. Personenverkehr aus Roten Zonen hinein in Grüne Zonen kann deshalb nicht schrankenlos zugelassen werden – vor allem Tests, aber auch Quarantänemaßnahmen werden hier zur Kontrolle angewendet.

Sofern Grüne Zonen aneinandergrenzen, kann jedoch auf Mobilitätsbeschränkungen verzichtet werden. Damit ist ein Anreiz für Anstrengungen gegeben, den Bereich der Grünen Zonen schrittweise zu größeren zusammenhängenden Gebieten auszuweiten.

Dass derartige Mobilitätsbeschränkungen wirksam sein können, hat übrigens Mecklenburg-Vorpommern im September und Oktober 2020 einige Woche lang uns vorgeführt. Denn während die Inzidenzen deutschlandweit bereits Anfang September wieder spürbar zu steigen begannen, wurde im hohen Norden die 10er-Inzidenz erst Mitte Oktober überschritten – in den Küstenlandkreisen sogar noch später. Geholfen hatten hier offenbar auch die von der Landesregierung zeitweise verhängten Mobilitätsbeschränkungen und Beherbergungsverbote.

Pandemiebekämpfung mit Anreizen für die lokale Eigenverantwortlichkeit

Zusammengefasst ist NoCovid also ein Lösungsansatz für die Pandemiekrise, der statt einer Eindämmung durch landesweite „Lockdowns“ nun die weitgehende und nachhaltige Eliminierung des Virus mittels einer lokal koordinierten und differenzierten Zugriffsweise sowie durch eine Kontrolle der Mobilität zwischen Regionen mit unterschiedlich hohem Infektionsgeschehen erreichen möchte. Der Weg von der „Roten Zone“ zur „Grünen Zone“ erscheint hart, doch besteht danach die Aussicht, eine schrittweise Normalisierung des Lebens zumindest innerhalb der eigenen Zone wieder ermöglichen zu können – und das relativ unabhängig vom Seuchengeschehen anderswo in der Republik.

Sollte es in einer „Corona-befreiten“ Zone aber doch zu nicht mehr nachverfolgbaren Neuausbrüchen kommen, muss als Gegenmaßnahme örtlich begrenzt zügig reagiert werden („lokales Ausbruchsmanagment“[12]). Sofern ein intensiviertes TTI-Regime nicht mehr ausreicht, kann aber mit einem nur auf die betroffene Zone begrenzten Kurz-Lockdown, wie Beispiele in Australien gezeigt haben, die Situation rasch wieder unter Kontrolle gebracht werden, ohne dass deswegen die Nachbarregionen automatisch mitbeeinträchtigt werden.

Abschied vom Fokus auf die national gesteuerte Seucheneindämmung?

Von der Grundidee erscheint „NoCovid“ als ein bestechend einfaches Modell, das aber mit zwei in Europa vorherrschenden Vorstellungen der Pandemiebekämpfung bricht: Einerseits geht es nicht mehr nur um eine „Eindämmung“ des Virus, für die die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems eine maßgebliche Größe ist. Denn dafür ist COVID-19 schlicht zu gefährlich und entwickelt sich zu dynamisch. Andererseits setzt „NoCovid“ nicht mehr auf eine zentral gesteuerte, möglichst stark vereinheitlichte nationale Pandemiebekämpfung, sondern baut auf die Flexibilität und Eigenverantwortung von überschaubaren lokalen Einheiten.

In ihrem zweiten Papier hat die NoCovid-Autor:innengruppe verschiedene „Handlungsoptionen“ in vier „Toolboxen“ unter den Überschriften „Mit Grünen Zonen zu dauerhaften Lockerungen“, „No-COVID Partnership Europe“, „Test – Trace – Isolate (TTI)“ sowie „Wirtschaft und Arbeitsmarkt“ näher beschrieben. Dazu wurde die Veröffentlichung weiterer Papiere mit der Ausarbeitung zusätzlicher „Handlungsoptionen“ in einem Twitter-Account des NoCovid-Projekts angekündigt. Außerdem verweisen die 14 Wissenschaftler:innen darauf, dass für eine Umsetzung des Konzepts die Unterstützung von Experten aus Australien und Neuseeland bereitstehe.

NoCovid ohne Zonen? Die „Stufenpläne ohne Jojo-Effekt“

Neben den Autor:innen der beiden NoCovid-Papers hat sich in der vergangenen Woche noch eine weitere prominente Gruppe von sieben Wissenschaftler:innen mit einem ähnlichen Ansatz unter dem Titel „Stufenpläne ohne Jojo-Effekt“ zu Wort gemeldet. [13] Sechs von ihnen hatten bereits den Aufruf „Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections“ vom 18. Dezember unterstützt; Sandra Ciesek, Thomas Czypionka und Viola Priesemann waren sogar Mitautoren dieses Papiers gewesen. Auch diese Gruppe rät in ihrem Debattenbeitrag, zumindest „mittelfristig“ eine Inzidenz von 10 anzupeilen. Dazu warnt sie vor verfrühten Lockerungen und den Negativfolgen einer „Stagnation auf zu hohem Niveau“. Insgesamt schlagen Ciesek und ihre Kolleg:innen eine „Strategie einer lokalen, differenzierten Eindämmung vor, bei der man akzeptiert, dass es lokal zu kleinen Ausbrüchen kommen kann, die Inzidenz aber trotzdem konsequent gesenkt und niedrig gehalten wird.“ Trotz der Nähe zum NoCovid-Konzept fehlt allerdings ein direkter Verweis darauf. Ein wesentlicher Unterscheidungspunkt der „Stufenpläne ohne Jojo-Effekt“ zu #NoCovid ist der Verzicht auf ein regionales Zonenmodell mit Mobilitätsbeschränkungen. Offenbar ist das im Vergleich zu den beiden NoCovid-Texten wesentlich kürzere Papier, an dem auch der Münchner Soziologe Nassehi mitgewirkt hat, als Rahmenempfehlung an die Politik für die Gestaltung eines Stufenplans gedacht, der für die kommende Woche erwartet wird.

Viel mediale Aufmerksamkeit für #NoCovid, aber Zweifel an der Umsetzbarkeit

Darüber hinaus ist in den letzten Wochen eine Vielzahl an Medienbeiträgen über „NoCovid“ erschienen, wobei das Konzept häufig wohlwollend kommentiert wird, aber dennoch auf Zweifel hinsichtlich seiner Umsetzbarkeit stößt. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein inzwischen über 700.000 Mal abgerufenes YouTube-Video der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim. Unter dem Titel „Versöhnung“ stellt sie darin in wenigen Minuten die Grundideen der NoCovid-Strategie schlüssig dar, kommt aber am Ende doch zu einem eher resignativen Résumé: „Aber so emotional, so hitzköpfig, so feindselig, wie momentan diskutiert wird… Manchmal glaube ich, allein deswegen könnte No-Covid nicht funktionieren, weil die Strategie voraussetzt, dass wir alle an Bord sind.“[14]

Zwischen Zustimmung und Zaudern: Reaktionen aus der Politik

Nicht so viel anders wie Mai Thi Nguyen-Kim klang vor zweieinhalb Wochen auch der bayerische Ministerpräsident Söder. Im heute-journal erklärte er nach der letzten Bund-Länder-Konferenz, er „wäre schon ein Anhänger einer NoCovid-Strategie“, doch gebe es dafür keine ausreichende Zustimmung unter seinen Amtskolleg:innen.[15] In der Tat hat sich außer ihm bislang sonst kein anderer Länderchef für NoCovid ausgesprochen. Jedoch zeigte der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Ralph Brinkhaus bei der Bundestagsdebatte über die Beschlüsse der letzten MPK kürzlich Sympathien für eine Zielorientierung an der 10er-Inzidenz.[16] Ähnlich wie er haben auch andere Bundestagsabgeordneten Zustimmung zu Grundgedanken des NoCovid-Konzepts geäußert, so die Gesundheitsexperten von SPD und Grünen, Karl Lauterbach und Janosch Dahmen. Zu den erklärten Unterstützern der Idee zählt außerdem der bayerische Linken-Bundestagsabgeordnete Andreas Wagner.[17] Auf kommunaler Ebene sympathisieren zwei rheinländische Metropolenchefinnen öffentlich mit NoCovid: die den Grünen nahestehenden Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker[18] und ihre grüne Bonner Amtskollegin Katja Dörner.[19]

Wenngleich der Kreis der Unterstützer:innen aus der Politik für NoCovid noch recht überschaubar ist, finden sich so doch prominente Stimmen darunter. Aber auch wenn es hinter vorgehaltener Hand sogar im Kanzleramt Sympathien für diese Idee geben sollte (denn immerhin gehört NoCovid-Autorin Melanie Brinkmann zu den von Merkel regelmäßig zu Rate gezogenen Virologinnen), ist auf dem Bund-Länder-Gipfel der kommenden Woche hier wohl kein Durchbruch zu erwarten.

Eine Chance als regionaler Modellversuch?

Vielmehr scheint es am ehesten denkbar, dass NoCovid beispielhaft von einzelnen Regionen umgesetzt werden könnte. Hierzu bräuchte es als rechtlichen Rahmen aber zumindest die Zustimmung einer deutschen Landesregierung, denn nur so könnte wohl ein Modellversuch mit den notwendigen Sonderbestimmungen vor Ort rechtssicher starten. Angesichts des öffentlichen Votums von Reker und Dörner würde sich als Erstes die Metropolregion Köln/Bonn anbieten, doch steht dem der Lockerungskurs der schwarz-gelben NRW-Landesregierung entgegen.[20]

Erinnern wir uns aber zurück an den Anfang der Corona-Krise im vergangenen März. Da war es Markus Söder, der in Bayern mit der Verhängung eines Lockdowns vorpreschte und so den zögernden Armin Laschet als Wortführer der Bremser allzu strenger Kontakteinschränkungen zum Einlenken zwang. Damit legte Söder den Grundstein für seinen demoskopischen Höhenflug in bis dato ungeahnte Beliebtheitswerte. Bis jetzt ist es sein Erfolgsrezept geblieben, sich im Rennen um die Unions-Kanzlerkandidatur als Gegenpol zu Laschet darzustellen. Was könnte da für den bayerischen Ministerpräsidenten eigentlich näher liegen, als unter seiner Schirmherrschaft einen NoCovid-Modell-Versuch in geeigneten Niedriginzidenz-Landkreisen alsbald zu starten?

Anmerkungen:

[1] Die in diesem Beitrag genannten Zahlen zu COVID-19 sind, soweit nicht anders vermerkt, sämtlich aus dem Coronavirus-Monitor der Berliner Morgenpost entnommen (Stand 28.2.2021, 15 Uhr): https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit. Als Datenquelle werden hier angegeben: Johns Hopkins University CSSE (internationale Daten von WHO, CDC (USA), ECDC (Europa), NHC, DXY (China), Risklayer/Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Meldungen der französischen Ämter und der deutschen Behörden (RKI sowie Landes- und Kreisgesundheitsbehörden).

[2] Vgl. Neue deutsche Schwelle, in: Süddeutsche Zeitung 17.2.2021, https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-inzidenz-schwellenwerte-50-35-1.5208343.

[3] Mecklenburg-Vorpommern öffnet Gartencenter, Zoos und Nagelstudios, in: Der Spiegel 25.2.2021, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/mecklenburg-vorpommern-oeffnet-wieder-baumaerkte-zoos-und-nagelstudios-a-8012c41c-3a61-437a-bb27-73d780c31b49#ref=rss?sara_ecid=soci_upd_wbMbjhOSvViISjc8RPU89NcCvtlFcJ; Söder, der Getriebene, in: Süddeutsche Zeitung 27.2.2021, https://www.sueddeutsche.de/bayern/soeder-corona-oeffnungen-1.5219258.

[4] Kurz erklärt Ausstieg: “Lockdown hat nach sechs Wochen seine Wirkung verloren”, in: Focus 25.2021, https://www.focus.de/politik/ausland/setzt-auf-massentests-kurz-erklaert-ausstieg-lockdown-hat-nach-sechs-wochen-seine-wirkung-verloren_id_13018988.html.

[5] Vgl. hierzu das Zeit-Interview mit dem australische Gesundheitsökonom Stephen Duckett: “Fangt einfach an”, in: Die Zeit 25.2.2021, https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2021-02/nocovid-australien-corona-strategie-deutschland-stephen-duckett.

[6] Viola Priesemann u.a., Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections, in: The Lancelet 18.12.2020, https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)32625-8/fulltext.

[7] Deepti Gurdasani u.a.: The UK needs a sustainable strategy for COVID-19, in: The Lancelet 9.11.2020, https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32350-3.

[8] „#ZeroCovid. Das Ziel heißt Null Infektionen! Für einen solidarischen europäischen Shutdown“, Online-Aufruf vom 12.1.2021, https://zero-covid.org/.

[9] Menno Baumann u.a., Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2, Online-Publikationen vom 18.1.2021 (Rahmenpapier) u. 10.2.2021 (Handlungsoptionen), https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_rahmenpapier.pdf u. https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_handlungsoptionen.pdf.

[10] Ebd., Handlungsoptionen, S. 2.

[11] Inzidenzwerte zu Stadt- und Landkreisen in diesem Absatz entsprechend den Angaben der Webseite „Risklayer“ vom 28.2.2021 (Stand 17.30 Uhr), https://www.risklayer-explorer.com/event/100/detail.

[12] Menno Baumann u.a., Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2, Online-Publikationen vom 10.2.2021 (Handlungsoptionen), https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_handlungsoptionen.pdf, S. 2.

[13] Sandra Ciesek u.a., Stufenpläne ohne Jojo-Effekt, Online-Publikation vom 19.2.2021, https://www.mpg.de/16463455/strategie-corona-covid-19; leicht geändert und gekürzt erschien der Text unter der Überschrift „Eine Perspektive ohne Auf und Ab“ bereits zwei Tage zuvor als Gastbeitrag in der „Zeit“: https://www.zeit.de/2021/08/corona-strategie-lockdown-stufenplan-wissenschaftler-lockerungen/komplettansicht.

[14] maiLab (d.i. Mai Thi Nguyen-Kim), Versöhnung, https://www.youtube.com/watch?v=bE315x4Vbf0 (25.2.2021).

[15] “Können dann die Zeitpläne etablieren”, https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/koennen-dann-die-zeitplaene-etablieren-100.html (10.2.2021); Söder will „No-Covid“-Strategie mit neuer Ampel für Bayern – doch der Widerstand ist zu groß, in: Münchner Merkur 18.2.2021 (aktualisierte Fassung), https://www.merkur.de/politik/soeder-coronavirus-ampel-bayern-no-covid-strategie-ueberblick-90201317.html.

[16] Einer erklärt’s der Regierung, in: Der Spiegel 11.2.2021, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkel-und-ralph-brinkhaus-zur-corona-politik-einer-erklaert-s-der-regierung-a-249b34cb-9441-4700-a7fb-192b05a499b6.

[17] Brief an Ministerpräsident Söder: MdB Wagner wirbt für No-Covid-Strategie, https://andreaswagner.die-linke-bayern.de/nc/im-bundestag/reden/detail/news/offener-brief-an-ministerpraesident-soeder-mdb-andreas-wagner-fordert-mehr-busse-fuer-schuelerbefoer/(8.2.2021).

[18] Oberbürgermeisterin Henriette Reker befürwortet No-Covid-Strategie, https://www.koeln.de/koeln/nachrichten/lokales/koelns-oberbuergermeisterin-henriette-reker-befuerwortet-no-covid-strategie_1168096.html (17.2.2021).

[19] Bonner OB Dörner unterstützt „No-Covid-Strategie“, in: Generalanzeiger 17.2.2021, https://ga.de/bonn/stadt-bonn/bonn-ob-doerner-unterstuetzt-no-covid-strategie_aid-56317457?utm_source=twitter&utm_medium=referral&utm_campaign=share.

[20] Corona in NRW: Konkreter Zeitplan für Lockerungen liegt schon vor, in: Westfälischer Anzeiger 27.2.2021, https://www.wa.de/nordrhein-westfalen/corona-nrw-lockdown-lockerungen-handel-sport-kultur-armin-laschet-christof-rasche-90218993.html.

Für ihre bewährte Korrekturhilfe als Blogartikel-Erstleserin danke ich Anja Müller (München).

“So viele, die fehlen” – die schweren Folgen des Lockdown light

Über 50.000 Coronatote haben wir inzwischen in Deutschland zu beklagen. Mitschuld daran war die verhängnisvolle Pandemiestrategie zwischen September und Mitte Dezember, für die das Oxymoron “Lockdown light” steht. Erst sehr spät, kurz vor Weihnachten, kam dann endlich die überfällige Verschärfung des Lockdowns. An den Folgen der Versäumnisse dieses deutschen Coronaherbstes haben wir im neuen Jahr immer noch zu tragen. Denn es wird wohl noch einige Wochen dauern, bis nach einer Reduzierung der Neuinfektionen auch die tägliche Zahl der an COVID-19 Verstorbenen deutlich zurückgeht.

Wenn das endlich passiert ist, steht dann wohl bald wieder die Frage unausgesprochen im Raum, wie viele Coronatote Deutschland täglich verkraften zu können glaubt. Über 1000 zum Glück nicht, und auch 500 scheinen den meisten wohl zu viel. Aber wäre es, falls die Inzidenzzahl „nur“ bei etwas über 50 liegen sollte, doch noch hinnehmbar, wenn täglich 200 Menschen erfolglos gegen ihre Atemnot auf der Intensivstation ankämpfen?

#ZeroCovid und #NoCovid lauten die Hashtags der eigentlich humanen Antworten auf das deutsche Coronadesaster im letzten Quartal des Jahres 2020. Diese Forderungen klingen radikal und bedürften einer breiteren gesellschaftlichen Diskussion, aber sie sind keineswegs „massiv unethisch“, wie ausgerechnet ein Mitglied des bayerischen Ethikrates kundtat:[1] Der Ökonomiephilosoph Christoph Lütge hat an der Technischen Universität München den Peter-Löscher-Stiftungslehrstuhl inne, der auf den namensgebenden ehemaligen Siemens-Vorstandsvorsitzenden als Privatmäzen zurückgeht. Lütge ist dazu noch Direktor des von Facebook gesponsorten „TUM Institute for Ethics in Artificial Intelligence“. Vom Bayerischen Rundfunk nach Gründen für sein harsches Urteil über #ZeroCovid gefragt, gab Lütge seine Version des im April durch die Presse gegeisterten Boris-Palmer-Frühstücksfernseh-Ethos[2] zum Besten:[3]

„Das Durchschnittsalter der Corona-Toten liegt bei etwa 84 Jahren und da stirbt man an Corona oder auch an etwas anderem. So ist es nun einmal. Menschen sterben.“

Wenn jetzt also ein sozialmedial-professoraler Experte bereits wieder munter Herzlosigkeiten zusammen mit Unwahrheiten über „große Reserven“ bei den Krankenhauskapazitäten verbreitet,[4] dann ist wohl eines gewiss: Schon bald werden wir uns in neu anschwellenden “Lockerungsdebattenorgien” ergehen, anstatt die Epidemie endlich wirkungsvoll in den Griff zu bekommen. Und da ja bislang nur schleppend geimpft wird, kann so bei den wohl irgendwo zwischen 50 und 100 demnächst stagnierenden Inzidenzwerten das tödliche Corona-Jojo ab Februar oder März wieder weitergehen. Nur wird es diesmal vermutlich beschleunigt durch gefährlichere Virenmutationen wie die in Großbritannien wütende B-117, die auch unser Gesundheitssystem zum Kollaps bringen dürften.

Lernen in der Pandemie: Wird Michael Kretschmer aus Schaden klug?

Bereits in diesem debattierorgiastischen-selbstvergessenen Sinne fabulierte gestern ausgerechnet der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, in dessen Bundesland die Inzidenz gerade einmal unter 200 gefallen ist, von einem möglichen „Stufenplan für Lockerungen“ in den nächsten Wochen.[5] Es war übrigens derselbe Politiker, der noch im Oktober vor Corona-„Hysterie“ gewarnt hatte, um dann angesichts explodierender Infektionszahlen Anfang Dezember kleinlaut zugeben zu müssen, dass man im Nachhinein betrachtet manche Maßnahmen besser früher hätte ergreifen sollen.[6] „Wir haben dieses Virus unterschätzt – alle miteinander“, erklärte er im ZDF-Morgenmagazin.[7] Die Schuld für diesen Fehler suchte er allerdings weniger bei sich selbst als bei anderen: Er hätte sich gewünscht, dass er „früher gewarnt worden wäre“, klagte er in einem späteren Interview.[8] Ministerpräsidenten müssen der Presse Rede und Antwort stehen – aber bleibt ihnen eigentlich keine Zeit, auch einmal selbst die Zeitung zu lesen?

Lässiger und souveräner als Kretschmer kommt gewöhnlich sein bayerischer Amtskollege Markus Söder daher. Gemäß seiner pandemischen Leitmaxime der „Vorsicht und Umsicht“ scheint er bislang überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Und doch trug auch Söder bei aller merkelnahen Besorgtheitsrhetorik die wachsweichen Bund-Länder-Beschlüsse des Lockdown light mit – und das, obwohl Bayern nicht zuletzt aufgrund seiner prekären Grenzlage zu den am härtesten von Corona getroffenen Bundesländern gehört: Fast 388.000 COVID-19-Infektionen zählte die Johns-Hopkins-Universität im Freistaat bislang, denen mehr als 9500 Menschen zum Opfer fielen.[9]

Allein in der bayerischen Landeshauptstadt München sind inzwischen mehr als 700 Menschen an Corona gestorben. Die Süddeutsche Zeitung erinnert in ihrer gestrigen Ausgabe nun an die Einzelschicksale hinter der hohen Todeszahl.[10] Auch ruft sie Menschen, die einen Angehörigen aus München wegen COVID-19 verloren haben und an ihn erinnern möchten, dazu auf, sich bei der Redaktion zu melden (muenchen-online@sueddeutsche.de oder 089/2183-9977). Wie die Zeitung erläutert, ist ihr Gedenkprojekt „inspiriert von Beiträgen in der New York Times (‚Those We’ve Lost‘), dem Guardian (‚Lost to the virus‘) und dem Tagesspiegel (‚Den Toten der Pandemie‘).“

Würdiges öffentliches Gedenken der Coronatoten – nur wie?

Es ist erfreulich, dass wenigstens einige große Tageszeitungen das schmerzliche Thema des Totengedenkens aufgreifen und die Opfer der Pandemie so sichtbarer machen. Aber wann werden wir in Deutschland auch einmal alle gemeinsam in würdiger Form der COVID-19-Toten öffentlich gedenken – anstatt darüber zu streiten, ob diese Menschen nun „an oder mit Corona“ gestorben seien und oder ob ihr Tod gar dank einer schwächeren Influenzawelle eigentlich nicht ins Gewicht falle?

Der vorgestern erfolgte Aufruf des Bundespräsidenten, zum Gedenken an die bislang 50.000 Coronatoten eine Kerze ins Fenster zu stellen, war eine gut gemeinte Geste.[11] Aber ein würdiges öffentliches Gedenken kann die „Aktion #Lichtfenster“ nicht ersetzen. Das hätte angesichts des Leides, dass so viele Menschen zusammen mit ihren Angehörigen erfahren mussten, anders auszusehen. Ehrlicherweise müsste es auch von dem Eingeständnis der politisch Verantwortlichen begleitet sein, dass die hohen Todeszahlen im deutschen Coronaherbst auch mit einer von Pandemieverharmlosern zeitweise in die Irre geleiteten öffentlichen Debatte und mit vermeidbaren politischen Fehlentscheidungen zu tun hatten.

Denn neben Trauer ist ja auch Bitterkeit über diese Versäumnisse berechtigt, besonders wenn Menschen in ihrem persönlichen Umfeld von Leid und Verlust betroffen sind. Nichtdestotrotz warnt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn heute, nur zwei Tage nach Steinmeiers #Lichtfenster-Gedenkaufruf, davor, „dass 2021 nicht das Jahr der Schuldzuweisung“ werden dürfe. „Über Fehler und Versäumnisse reden ist wichtig. Aber ohne dass es unerbittlich wird. Ohne dass es nur noch darum geht, Schuld auf andere abzuladen“, mahnt Spahn.[12]

Pluralis Majestatis? Bekenntnisse des Ministers Jens Spahn

Leider lassen die weiteren Ausführungen des Ministers nicht erkennen, dass ihm klar wäre, wie wichtig Ehrlichkeit und die klare Benennung der persönlichen Verantwortlichkeit beim glaubwürdigen „Reden über Fehler und Versäumnisse“ sind. So gestand etwa Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow Anfang des Monats in einer Talkshow seinen Irrtum bei den Bund-Länder-Verhandlungen im Herbst offen ein – nicht er, sondern die Kanzlerin habe mit ihren Warnungen recht gehabt: „Ich habe mich von Hoffnungen leiten lassen, die sich jetzt als bitterer Fehler zeigen“, gab Ramelow zu.[13] Anders klingt jedoch heute Spahn, der, wie schon Kretschmer bei seinem Dezember-Statement, den Plural der ersten Person für seine Eingeständnisse wählt:

„Wir hatten alle zusammen das trügerische Gefühl, dass wir das Virus gut im Griff hätten. Die Wucht, mit der Corona zurückkommen könnte, ahnten wir, wollten es aber in großer Mehrheit so nicht wahrhaben. […] Wir haben dem Virus zu viel Raum gelassen. Wir hätten schon im Oktober bei geringeren Infektionen härtere Maßnahmen ergreifen müssen.“

Wir? Nicht alle haben mit Spahn im Herbst in das Lockdown-Light-Horn gestoßen. Zum Beispiel finden sich auch in diesem kleinen Blog zwei Beiträge im Oktober und November, in denen vor den Folgen einer laxen Pandemiestrategie gewarnt wurde – unter Verweis auf zahlreiche andere, laute und gewichtige Stimmen, deren Kritik in den Medien durchaus breit rezipiert wurde. Umfragen belegen dazu, dass rund ein Viertel der Bevölkerung die vom Bund und den Ländern vereinbarten Maßnahmen für nicht weitreichend genug hielt.[14] Die Politik hatte sich also im Herbst für einen Weg entschieden, der im laufenden Diskurs mehrheitsfähig schien, wenngleich vor ihm laut und vernehmbar gewarnt wurde.

Solange aber die Verantwortlichen den Mut zur schonungslosen Ehrlichkeit bei ihren Fehlereingeständnissen nicht haben, ist es vielleicht besser, auf einen nationalen Trauerakt für die Coronatoten vorerst zu verzichten und es bei wortlosen Gesten des Bedauerns wie den #Lichtfenstern zu belassen. Der stille Tod der über 50.000 COVID-19-Opfer, über den bislang so wenig Worte verloren worden sind, während über Einschränkungen durch Schutzmaßnahmen tagtäglich geklagt wird, ist zwar nicht nur traurig, sondern eigentlich sogar beschämend. Noch beschämender wäre es allerdings, wenn die Toten und ihre Angehörigen pauschal für ihr erlittenes Schicksal von selbstgerechten Rednern bei einer Gedenkfeier mitverantwortlich gemacht würden.

Anmerkungen:

[1] Christoph Lütge via Twitter am 17.1.2021, https://twitter.com/chluetge/status/1350863746957275136.

[2] Zu umstrittener Palmers Äußerungen vom vergangenen Frühjahr vgl. Der Tagesspiegel, 28.4.2020, „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, https://www.tagesspiegel.de/politik/boris-palmer-provoziert-in-coronavirus-krise-wir-retten-moeglicherweise-menschen-die-in-einem-halben-jahr-sowieso-tot-waeren/25782926.html. Das vollständige siebenminütige Interview mit Palmer, das im SAT 1-Frühstücksfernsehens am 28.4.2020 stattfand, findet sich unter folgendem Link: https://www.sat1.de/tv/fruehstuecksfernsehen/video/202082-oberbuergermeister-boris-palmer-spricht-ueber-die-deutsche-wirtschaft-clip.

[3] Mitglied des Bayerischen Ethikrates kritisiert #ZeroCovid, BR24 21.1.2021, https://www.br.de/nachrichten/bayern/mitglied-des-bayerischen-ethikrates-kritisiert-zerocovid,SMfAiNI.

[4] In seinem dem Sender am 21.1.2021 dem BR gegebenen Interview (abrufbar unter dem in vorigen Fußnote angegebenen Link) leugnete Lütge eine Überlastung der Krankenhäuser durch die aktuelle Corona-Krise und sprach – im Widerspruch zu den Verlautbarungen von namhaften Krankenhaus- und Intensivmedizinern – von einer „für diese Jahreszeit absolut normalen Belegung“ bei noch „großen Reserven“. Ferner musste BR24 einen am 21.1.2021 veröffentlichten Artikel über Lütges Äußerungen zu #ZeroCovid mit folgendem Warnhinweis versehen: „Eine frühere Version des Artikels enthielt eine nicht belegbare Aussage von Christoph Lütge zu Übersterblichkeit aufgrund von Lockdown-Maßnahmen während der Corona-Pandemie. Wir haben diese daher entfernt.“ https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/kritik-an-initiative-zerocovid-handelt-massiv-unethisch,SMXQCUX.

[5] Kommen die Lockerungen hier früher als anderswo? In: Lausitzer Rundschau 23.1.21, https://www.lr-online.de/nachrichten/sachsen/corona-in-sachsen-kommen-die-lockerungen-hier-frueher-als-anderswo_-54633750.html.

[6] Kretschmer im ZDF zu Lockdown – “Verdummung im Land entgegentreten”, ZDFheute 9.12.2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-interview-michael-kretschmer-heute-journal-100.html.

[7] Kretschmer: “Haben dieses Virus unterschätzt”, ZDFheute 2.12.2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-sachsen-kretschmer-100.html.

[8] Ministerpräsident Kretschmer räumt Fehler in Corona-Politik ein, RND/dpa 8.1.2021, https://www.rnd.de/politik/corona-in-sachsen-michael-kretschmer-raumt-fehler-in-umgang-mit-pandemie-ein-VSFYEBNZT755FV3G3C32AY52YA.html.

[9] Die Zahlen sind entnommen aus dem Coronavirus-Monitor der Berliner Morgenpost (Stand 23.1.2021, 20 Uhr): https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit. Als Datenquelle werden hier angegeben: Johns Hopkins University CSSE (internationale Daten von WHO, CDC (USA), ECDC (Europa), NHC, DXY (China), Risklayer/Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Meldungen der französischen Ämter und der deutschen Behörden (RKI sowie Landes- und Kreisgesundheitsbehörden).

[10] So viele, die fehlen, in: Süddeutsche Zeitung 23.1.2021, https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/muenchen/coronatote-in-muenchen-die-menschen-hinter-den-zahlen-e487702/.

[11] Bundespräsident Steinmeier ruft auf zur Aktion #lichtfenster und lädt ein zum staatlichen Gedenken an die Corona-Toten in Deutschland, Pressemitteilung 22.1.2021, https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/01/210122-Aufruf-Lichtfenster.html.

[12] Bund erwirbt 200.000 Dosen eines Antikörper-Medikaments, in: Deutsche Ärztezeitung 24.1.2021, https://www.aerztezeitung.de/Wirtschaft/Bund-erwirbt-200000-Dosen-eines-Antikoerper-Medikaments-416489.html. Die Äußerung fielen in einem Interview mit der Bild am Sonntag vom selben Tag (https://www.bild.de/bild-plus/politik/2021/politik/spahn-unter-druck-wir-haben-dem-virus-zu-viel-raum-gelassen-75032808,view=conversionToLogin.bild.html).

[13] Forderung nach noch härterem Lockdown, insuedthueringen.de 8.1.2021, https://www.insuedthueringen.de/inhalt.ramelow-raeumt-fehler-ein-forderung-nach-noch-haerterem-lockdown.a1d48333-018e-4b16-b39c-3e05ea779e24.html. Für einen Interviewausschnitt aus der Talkshow “Markus Lanz” mit Ramelows zitierten Äußerungen siehe https://www.zdf.de/nachrichten/video/politik-ramelow-corona-management-lanz-100.html. Ähnlich selbstkritisch hatte sich Ramelow bereits in einem Interview mit der FAZ geäußert, dass am Vortrag abgedruckt worden war: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bodo-ramelow-gesteht-fehler-im-kampf-gegen-corona-17135034.html.

[14] ZDF-Politbarometer 13.11.2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/politbarometer-rueckhalt-fuer-geltende-massnahmen-100.html.

Der Sommertanz ist vorbei – Angie, hol den Hammer raus!

PLÄDOYER FÜR EINEN INTELLIGENTEN ZWEITEN LOCKDOWN IM DEUTSCHEN CORONAHERBST

 

Am Sonntag mussten noch einmal die Uhren von der Sommer- in die Winterzeit zurückgedreht werden – fast hätten wir vergessen, wie wir uns vor einem Jahr noch kollektiv über diesen fragwürdigen Eingriff in unseren gewohnten Schlafrhythmus erregt hatten. Denn jetzt rauben uns ganz andere Sorgen den Schlaf – exponentiell explodieren auch in Deutschland die Corona-Zahlen. Die zweite Welle hat uns eingeholt, wie zuvor schon die europäischen Nachbarländer. Mitte letzter Woche überschritten die Tageswerte der Neuinfektionen republikweit erstmals die Zahl von 10.000, am Freitag kratzten sie bereits an der 15000er-Marke.[1] In München, wo ich lebe, sprang die Zahl am Mittwoch auf über 300 Neuinfektionen. An der Isar sind nach Kenntnis des städtischen Gesundheitsamtes momentan 2895 Menschen akut mit Corona infiziert – mehr als in der ersten Welle Anfang April.[2]

Deutschland hat in der letzten Woche damit auch den kritischen Inzidenzwert von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohnern gerissen. Bis gestern stieg diese Zahl republikweit auf 86. In München beträgt sie aktuell 114 – andere Großstädte haben sogar noch höhere Wochen-Inzidenzwerte zu vermelden, etwa Bremen (122), Berlin (133) oder, an der Spitze der deutschen Metropolen liegend, Frankfurt am Main mit knapp 200. Doch auch in der Fläche hat sich Corona nun breitgemacht. Den Warn-Inzidenzwert von über 35 wöchentlichen Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner unterschreiten mittlerweile nur noch die zwei Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern (29) und Sachsen-Anhalt (32).

„Recht auf Bildung“ vs. Infektionsschutz: Coronawirrwarr an den Schulen

Als Lehrer habe ich die Debatte um den Schulunterricht in Corona-Zeiten besonders im Blick. Trotz der anrollenden zweiten Welle erklärt Yvonne Gebauer (FDP), Kultusministerin von Nordrhein-Westfalen, dass sie Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts für die Schulen derzeit nicht anwenden wolle. Ihre Begründung, warum sie auf die laut RKI eigentlich gebotene generelle Maskenpflicht und den Unterricht in geteilten Klassen verzichte, obgleich ihr Bundesland einen der höchsten Inzidenzwerte in Deutschland verzeichnet:

„Ich übergehe die Wissenschaft nicht, ich habe nur einen anderen Auftrag als das RKI. Meine Verpflichtung ist es, Bildung auch in Coronazeiten sicherzustellen.“

Die Politik müsse Gebauer zufolge nämlich „den Infektionsschutz und das Recht der Kinder auf Bildung miteinander in Einklang bringen“.[3] Ehrlicherweise hätte sie eigentlich von einer Unterordnung des Infektionsschutzes unter die Maßgabe der Fortsetzung des Präsenzunterrichts sprechen müssen.

Mit dieser Marschrichtung durch den Coronaherbst steht Gebauer keineswegs allein – auch in Niedersachsen hält es Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) nicht für nötig, zumindest für ältere Schüler ein generelles Maskentragegebot anzuordnen.[4] Und in Berlin und Hamburg gilt trotz der dortigen Spitzeninzidenzwerte eine Maskenpflicht bislang nur für Schüler ab der 11. Klasse.[5]

Aber auch in Bayern, wo sich Ministerpräsident Söder gerne als Vorkämpfer allerstriktester Regeln geriert, aber der Inzidenzwert mit 92 dennoch nur knapp vor der erst letzte Woche neu eingeführten Stufe „Dunkelrot“ steht, herrscht de facto ein unübersichtlicher Fleckerlteppich. Nach dem Berchtesgadener Land musste am Montag auch der Landkreis Rottal-Inn wegen Inzidenzwerten von über 200 in den Lockdown, was dort Schulschließungen zur Folge hatte. Sonst führten aber bislang nur einige wenige Landkreise den Wechsel von Distanz- und Präsenzunterricht wieder ein. Ungeachtet der sich zuspitzenden Lage wurde in München gar die Maskenpflicht für Grundschüler wieder aufgehoben.[6]

Wir wissen zwar, dass Kinder keine „Virenschleudern“ sind, wie zu Pandemiebeginn zunächst befürchtet. Aber unbestritten bleibt, dass auch sie durchaus zur Verbreitung von Covid-19 beitragen können.[7] Wo Abstände nicht eingehalten und keine Masken getragen werden, sind also Grundschüler (unter denen es ja durchaus auch potenzielle Risikopatienten gibt, z.B. Asthmatiker) und ihre Lehrkräfte derzeit besonderen Ansteckungsrisiken ausgesetzt – auch in der „Weltstadt mit Herz“.

Merkelmilder Rückblick auf die Hahnenkämpfe im Seuchenfrühling

Verwirrend und besorgniserregend erscheint insofern derzeit die Corona-Lage in Deutschland. Dabei hatte das Land den Beginn der Pandemie vergleichsweise gut gemeistert. Manches ist zwar inzwischen ein wenig merkelmild verklärt worden. Denn nicht alles war im Frühjahr so vorbildlich, wie es uns unsere Kanzlerin in ihren jüngsten Podcast-Appellen glauben machen wollte. Reichlich Zoff zwischen den mutmaßlichen K-Kandidaten der Unionsparteien prägte die Corona-Debatten im März. Doch dann kam nach kurzem Gezerre zwischen Laschet und Söder und dem Vorpreschen des Bayern der von Merkel klug kommunizierte republikweite Lockdown. Das war zum Glück gerade noch rechtzeitig genug, um die im März in Gang gekommene exponentielle Virenverbreitung bereits im April wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Dieser Anfangserfolg war auch der Bereitschaft der Bevölkerung zu verdanken, den ersten Lockdown geduldig mitzutragen, aus Solidarität mit den Älteren und chronisch Kranken, für die eine Infektion lebensbedrohlich sein kann. Dennoch starben bundesweit rund 9000 Menschen im Verlauf der ersten Welle an Covid-19 – ein „nur“ traute sich unsere Regierung vor diese hohe Zahl zu setzen, weil wir im Vergleich mit Italien oder Spanien noch glimpflich davonkamen.

Freilich schien bereits Ende April die Solidarität zu bröckeln. Früh begann sich Laschetsche Ungeduld breitzumachen, umsonst warnte Kanzlerin Merkel ihre Partei vor voreiligen „Lockerungsdebattenorgien“. Und so gelang es auch nicht, die Infektionszahlen so drastisch zu senken wie etwa in China oder Japan. Ein Sockelwert von täglichen Neuinfektionen, die zwar nicht mehr in Tausendern, aber immer noch in Hundertern zu zählen waren, blieb uns im Zuge der im Mai und Juni erfolgten Rücknahmen der Corona-Bestimmungen erhalten. Ob eine schleichende Verteilung des Virus für die Intensität des jetzigen zweiten Ausbruchs mitverantwortlich ist? In jedem Fall verloren trotz der gesenkten Neuinfektionsrate in Deutschland auch während der Sommermonate fast jeden Tag mehrere Menschen wegen Covid-19 ihr Leben.

Sozialmedial vermittelter Wahnsinn und sommerliche Spaßgesellschaft

Im Sommer setzte sich die Erkenntnis durch, dass das Virus offenbar viel leichter als zunächst vermutet über Aerosole übertragen wird. Während Aktivitäten an der frischen Luft so als weitgehend gefahrlos eingestuft werden konnten, wurde in geschlossenen Räumen das Tragen von Masken nun mit mehr Nachdruck verpflichtend gemacht. Neue Seuchenerkenntnisse dafür zu nutzen, um Freiräume im Alltagsleben zu ermöglichen oder mit angepassten Regelungen zu erhalten, begrüßten die meisten mit Vernunft begabten Menschen hierzulande. Von „Querdenkern“ wurden die frisch gewonnenen sommerlichen Freiheiten allerdings medial wirksam mit schriller Maskenverweigerungsfolklore konterkariert. Leugner bekannter Tatsachen, die etwa behaupten, die Erde sei eine Scheibe, nannte man früher einfach Spinner und bemitleidete sie eher. Gelegentlich fuchtelte auch irgend so ein armer Irrer mit handgemalten Pappschildern an einer Straßenecke herum – das war’s aber dann auch schon. Inzwischen kann sich offenkundiger Wahnsinn sozialmedial getriggert rasend verbreiten, schneller noch als Covid-19. Und so schienen in diesem Berliner Coronasommer wirre Fieberfantasien vom nahenden Ende der Republik, die etwa ein irrlichternder Koch oder ein abtrünniger Pastor unter ihren Followern verbreiteten, sich plötzlich zur handfesten Gefahr für unsere Demokratie aufzuschaukeln.

Der „Sturm auf den Reichstag“ aus der Perspektive rechter Protestierer (Quelle: „Demo Channel“-Video auf YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=eiiG0rQijWI))

So ärgerlich die Bilder vom „Sturm auf den Reichstag“ auch waren – eine größere politische Wirkung entfaltete wohl der Eindruck in der Öffentlichkeit, dass am 29. August mehr als nur ein paar „Covidioten“ regenbogen- und reichskriegsflaggenschwenkend protestiert hatten. Vielmehr machte sich nun die Sorge in den Parteien breit, die Bürger nicht durch ein allzu striktes Seuchenschutzmanagement vor den Kopf zu stoßen. Und so wurden im Verlauf des Sommers Pandemieruhekissen eilfertig mit einlullenden politischen Mantras bestickt, etwa: „Einen zweiten Lockdown darf es unter keinen Umständen geben“ oder „Schulen müssen auf jeden Fall offen bleiben“.

Nur welcher verantwortungsvolle Politiker konnte so etwas eigentlich ernsthaft versprechen? Entwarfen Virologen im Frühjahr nicht vielmehr ein Szenario für die Zeit bis zu wirksamen Impfungen, das einen flexiblen Umgang mit der Pandemie je nach Infektionslage vorsah – ganz im Sinne der von Tomás Pueyo geprägten Formel „The Hammer and the Dance“?[8] Flexible Reaktionen – mal angemessene Lockerungen, dann wieder die gebotenen Einschränkungen – waren demnach zur Vermeidung neuer großer Ausbrüche nötig („Dance“), aber auch ein weiterer Lockdown („Hammer“) keinesfalls vor vornherein auszuschließen. Jedoch unterließ es selbst Kanzlerin Merkel, diese unbequeme Wahrheit in ihren ab September zunehmend besorgt klingenden öffentlichen Äußerungen ehrlicherweise einfließen zu lassen.

Maske und Frischluft: Deutschlands Spätsommertanz zögert die zweite Welle etwas hinaus

Wie wir anhand des Pandemieverlaufs im Spätsommer nun rückblickend erkennen können, milderte und verzögerte offenbar die Verlagerung des Lebens ins Freie und das Tragen von Masken zwar zunächst den Anstieg der Neuinfektionen. Doch reichten die propagierten AHA-Maßnahmen offenbar nicht aus, um die beginnende exponentiellen Verbreitung wirklich aufzuhalten. Wie schon die erste Welle kommt so nun auch die zweite Welle lediglich mit etwas Verzögerung gegenüber den Nachbarstaaten nach Deutschland.

Freilich ist dieser Zeitgewinn ein nicht zu unterschätzender Vorteil, der für adäquate weitere Schutzmaßnahmen hätte genutzt werden können. Doch war die Öffentlichkeit zu sehr vom No-Lockdown-Mantra eingelullt und so auf rasche Änderungen im Pandemiemanagment nicht eingerichtet. Anders als im Frühjahr ist es uns deshalb im Oktober bislang nicht gelungen, das Deutschland gewährte Zusatzzeitfenster sinnvoll zu nutzen. Stattdessen wurde es mit chaotischen, kleinteiligen und wenig wirksamen Maßnahmen vertrödelt. Wenn wir aber den kleinen zeitlichen Rest, der uns noch bleibt, nun nicht entschieden und wirksam nutzen, wird uns wie die Nachbarstaaten die volle Wucht einer zweiten Pandemiewelle treffen. Der einzige Vorteil, der Deutschland dann noch bleibt, ist sein gut ausgestattetes Gesundheitssystem, das bei fortgesetzter exponentieller Verbreitung des Virus aber auch an seine Grenzen noch stoßen wird.

Ungeachtet dessen, ob wir wenigstens die schlimmen Krankenhausdramen, die sich im vergangenen Frühjahr in Italien abgespielt haben, vermeiden können, ist in jedem Fall mit einer raschen Zunahme der Todesopfer zu rechnen. Im September lag zwar ihre tägliche Zahl zunächst noch kaum über dem niedrigen Sockelniveau der Sommermonate. Deshalb wurde bis vor Kurzem auch noch vor einer „Überdramatisierung“ der Lage gewarnt. Die gestiegenen Zahlen den Neuinfektionen würden sich durch die höheren Testkapazitäten erklären, und außerdem überwiege immer noch der Anteil an jüngeren Infizierten mit leichten Verläufen, hieß es. Doch im Oktober kam es dann zu einem deutlichen Anstieg der Zahl der Coronatoten. So starben in der vergangenen Woche täglich zwischen 27 und 49 Menschen in Folge von Covid-19, und auch die Zahl der schwererkrankten Intensivpatienten stieg sprunghaft an.[9] Ist es wirklich überdramatisiert, wenn man aus diesem Verlauf Handlungsdruck ableitet? Oder müssen es mindestens 100 Tote täglich sein, bevor der Singsang des wohlfeilen Sommer-Mantras vom unbedingt zu vermeidenden Lockdown endlich verstummt?

Die Alten sterben lassen zum Wohle der Wirtschaft – ein zynischer Rechenfehler

Neben chronisch Kranken bezahlen vor allem alte Menschen eine Corona-Infektion häufiger mit ihrem Leben. Der Tübinger Oberbürgermeister gab gegen Ende des ersten Lockdowns hierzu ernsthaft Folgendes im Frühstücksfernsehen eines Privatsenders zu bedenken:

„Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“

Die Pandemie verkürzt also nur ein Bissele das Leben der „hochaltrigen“ Menschen – alles halb so schlimm! [10]

Als ich das im April hörte, war ich erst wütend – und dann erleichtert, dass meinen eigenen Eltern, Gott sei dank, das nicht mehr erleben. Mein Vater wurde 85 – eigentlich ein stolzes Alter, und doch kam sein Tod wegen eines zu spät erkannten Hirntumors überraschend schnell. Drei Monate zuvor war er noch mit dem Auto durchs Dorf gefahren, um mit meiner Mutter Einkäufe zu erledigen. Das alles liegt glücklicherweise nun schon ein paar Jahre zurück. Denn so muss ich mit niemandem, auch nicht mit einem schwäbischen OB, darum feilschen, ob der Erhalt der allerletzten Lebensjahre meiner betagten Eltern es wirklich wert ist, dass deswegen das öffentliche Leben eingeschränkt wird.

Konsequentes Pandemiemanagment: Vorbilder in Ostasien

Der Palmersche Zynismus ist unverzeihlich inhuman. Darüber hinaus ergibt er aber nicht einmal ökonomisch betrachtet einen Sinn, wenn man die Perspektive global erweitert. Denn die einzige große Wirtschaftsmacht, deren Bruttoinlandsprodukt auch im Corona-Krisenjahr noch wächst, ist China.[11] Der Pandemie sind dort nach ihrem erstmaligen Ausbruch Ende 2019 zwar auch über 4600 Menschen zum Opfer gefallen. Aber nach einem harten Lockdown Anfang 2020 scheint das Reich der Mitte von einer zweiten Welle nun praktisch verschont zu bleiben.

Es ist aber nicht nur das vom „unübertroffenen Steuermann“ Xi Jinping autoritär gelenkte China, das mit vergleichsweise wenigen Seuchenopfern und geringeren Wirtschaftseinbußen durch das Jahr 2020 kommt. Auch Ostasiens Demokratien stehen im Vergleich zu Deutschland in der Corona-Krise besser da – so etwa Taiwan, Japan oder Südkorea.

In keinem dieser drei Länder hat man zu Beginn der Pandemie eine erbitterte „Masken-Debatte“ geführt wie etwa bei uns. Auch wenn die Wirksamkeit des Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung anfangs nicht eindeutig erwiesen war, hielt man es in asiatischen Ländern für selbstverständlich, eine solch leicht verfügbare Schutzmaßnahme gegen die Verbreitung von Viren sofort zu nutzen. Bei uns dagegen scheinen die kulturell bedingten Vorbehalte gegen jedwede Gesichtsverhüllung so tief verankert,[12] dass nicht nur „Querdenker“ sondern sogar der Ärztekammer-Präsident die inzwischen wissenschaftlich belegte Wirksamkeit von Alltagsmasken bei der Einschränkung der Covid-19-Verbreitung noch letzte Woche ernsthaft anzweifelte.[13]
Bildquelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/hande-erde-festhalten-umwelt-4167544 (Foto von Anna Shvets).

Gemeinsam ist den ostasiatischen Ländern ferner, dass sie frühzeitig nach Ausbruch der Infektion weitreichende Maßnahmen zum Stopp ihrer Verbreitung ergriffen haben. Strikte Quarantäne-Regeln oder frühzeitige lokale Lockdowns in Gebieten, die von kleineren Ausbrüchen betroffen waren, sowie landesweite Kontakteinschränkungen bereits bei verhältnismäßig geringen Anstiegen der Infektionsraten führten dazu, dass Covid-19 nicht in dem Maße außer Kontrolle geraten konnte, wie wir es derzeit in Europa erleben. Das strikte asiatische Pandemiemanagment mag uns bisweilen übertrieben erscheinen. Im Vergleich mit der Situation in Europa hat es sich aber ausgezahlt: Vielen Menschen wurde das Leben gerettet und auch die Belastungen der Wirtschaft konnten ein Stück weit eingegrenzt werden. Denn frühere Einschränkungen oder regionale Lockdowns waren insgesamt weniger belastend für das ganze Land und und eröffneten dazu die Chance zu einer früheren Rückkehr in einen Zustand vorsichtiger Normalität. Sowohl beim Umgang mit dem „Hammer“ wie auch beim „Tanz mit dem Virus“ könnten sich die Europäer also von Ostasien einiges abschauen.

Sicherlich kann man die Rezepte anderer Länder, noch dazu anderer Kulturkreise, nicht eins zu eins übertragen. Doch zumindest macht der Blick nach Ostasien deutlich, dass wir wenig Grund haben, unser Coronamanagment nur deshalb für vorbildlich zu halten, weil es derzeit bei europäischen Nachbarländern noch schlechter läuft, oder weil man in Trumps Amerika mit seinen fast 225.000 Coronatoten traurigerweise nicht einmal erkennen kann, ob die erste Welle dort überhaupt je aufgehört hat. Covid-19 betrifft die ganze Welt – anstatt hochmütig uns immer nur selbst zum Maßstab zu nehmen, sollten wir uns lieber von den Best-Practice-Beispielen auf dem gesamten Globus anregen lassen.

Zeit für mehr als nur ein wenig Gehämmer: Mut zum intelligenten Lockdown

Vor allem aber müssen wir endlich die momentane Covid-19-Realität klar zur Kenntnis nehmen und entsprechend handeln. Wir sind in der zweiten Welle, mitten im exponentiellen Anstieg, und sollten jetzt sofort wirksame und weitreichende Maßnahmen ergreifen, um aus der exponentiellen Kurve wieder herauszukommen. Zwar kann der anstehende „intelligente Lockdown“ besser auf das Infektionsgeschehen, dass die Virologen inzwischen ein Stück weit analysiert haben, angepasst werden. Das öffentliche Leben muss also wohl nicht noch einmal nahezu vollständig zum Erliegen kommen. Aber dennoch bedarf es grundsätzlich wieder der gleichen Entschlossenheit der Regierungen wie im Frühjahr und des gleichen Zusammenhalts der Bevölkerung, um diese Gesundheitskrise in Solidarität mit den besonders gefährdeten Menschen zu überstehen.

Denn wenn die Kontakte in den nächsten Wochen wirklich nachhaltig eingeschränkt werden sollen, wird es wohl unvermeidlich sein, den Gastronomie-, Kultur- und Sportveranstaltungsbetrieb deutlich mehr als bisher zu regulieren und einzuschränken, die Wirtschaft wieder so weit wie möglich auf Home Office-Betrieb umzustellen und in Schulen nochmals den Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht einzuführen. Zudem müssen die Menschen generell – und nicht nur durch die Kanzlerin via Podcast-Seelenmassage – aufgefordert werden, sich möglichst zu Hause aufzuhalten und Privatkontakte wieder deutlich einzuschränken.

Es wäre es dabei sicherlich sehr hilfreich, wenn für diesen intelligenten Lockdown nun eine klarere Zielvorgabe als im Frühjahr gemacht wird. Ob jetzt noch ein von Kanzlerin Merkel ins Spiels gebrachter „Lockdown light“[14] oder das von dem SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach propagierte englische Konzept eines „Short Shutdown“[15] bei den davongaloppierenden Infektionszahlen ausreicht, muss allerdings bezweifelt werden. Denn der richtige Zeitpunkt für den Einsatzes eines Mikro-Hammers wäre wohl eher bereits Anfang Oktober gewesen. Nachhaltig wirksam könnte jetzt vermutlich das gezieltes Herunterfahren der Kontakte über ca. vier Wochen sein – in diesem Zeitraum hat Israel jedenfalls die dort im September explodierten Infektionszahlen wieder in den Griff bekommen.

Auf jeden Fall sollte die Bevölkerung von Anfang an absehen können, dass bei einer disziplinierten Umsetzung die Einschränkungen des „Hammers“ nach einem überschaubaren Zeitraum wieder zurückgenommen werden. Auch für die Phase der Lockerungen ist eine planvollere Strategie als im vergangenen Mai angezeigt. Denn ohne eine nochmals von unionsinternen Hahnenkämpfe getriebene Vorgehensweise liegt die Chance sicherlich höher, dass in einem vorausschauenden, vorsichtigen „Tanz mit dem Virus“ das Infektionsgeschehen den Winter über dann nicht mehr so außer Kontrolle gerät wie jetzt.

Solidarisch getragene Krisenstrategie: Festigung unserer vom Rechtspopulismus gebeutelten Demokratie

Freilich sollten auch die wirtschaftlichen Folgen des zweiten, diesmal gezielter als im März gegen die Pandemie eingesetzten Lockdown-Hammerschlags solidarisch getragen werden. Hilfsprogramme müssen nicht nur telegen angekündigt, sondern auch unbürokratisch und gerade für die kleinen Betriebe praktikabel umgesetzt werden. Eine Unternehmenspleiten- oder Privatinsolvenzwelle darf nicht der Preis der Pandemie sein. Mit dem Kurzarbeitergeld wurde zwar vielen Angestellten in betroffenen Unternehmen geholfen. Zusätzlich ist aber auch eine Krisenabsicherung des Lebensunterhalts von Selbstständigen nötig, die beispielsweise im Kulturbetrieb von den Einschränkungen besonders betroffen sind.

Wenn wir uns in Deutschland, von globalen Krisenvorbildern inspiriert, also zu mehr verantwortungsvoller Entschlossenheit beim Umgang mit der Pandemie durchringen, werden wir hoffentlich schon im Dezember wieder die Neuinfektionszahlen sinken sehen. Wir haben bis dahin zwar wohl nochmals 1000 weitere Todesopfer zu betrauern – aber wenigstens nicht wieder mehrere Tausend. Kurzzeitig leidet unsere Wirtschaft zwar unter dem „Hammer“, aber wir werden sie durch die Rückgewinnung der Kontrolle über die Pandemie in den Monaten des darauffolgenden „Tanzes“ insgesamt eher weniger schwächen.

Der vielleicht wichtigste Ertrag einer solchen solidarischen Krisenstrategie scheint mir aber zu sein, dass die Menschen in Deutschland erleben werden, wie man gemeinsam eine Pandemie in humaner Weise erfolgreich übersteht. Diese Erfahrung einer demokratischen Gesellschaft kann vielleicht die beste Medizin sein gegen eine andere, schon länger grassierende, möglicherweise sogar noch gefährlichere Krankheit unserer Zeit – die ideologische Seuche des Rechtspopulismus.

 

Anmerkungen:

[1] Die Covid-19-Zahlenangaben sind im Folgenden, soweit nicht anders angegeben, entnommen aus dem Coronavirus-Monitor der Berliner Morgenpost (Stand 27.10.2020, 12 Uhr): https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit. Als Datenquelle werden hier angegeben: Johns Hopkins University CSSE (internationale Daten von WHO, CDC (USA), ECDC (Europa), NHC, DXY (China), Risklayer/Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Meldungen der französischen Ämter und der deutschen Behörden (Robert-Koch-Institut sowie Landes- und Kreisgesundheitsbehörden).

[2] https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtinfos/Coronavirus-Fallzahlen.html (Stand 27.10.2020, 18 Uhr).

[3] Süddeutsche Zeitung (SZ) 23.10.2020, „Ich übergehe die Wissenschaft nicht“, https://www.sueddeutsche.de/politik/schulen-ich-uebergehe-die-wissenschaft-nicht-1.5090888.

[4] Tonne will so lange wie möglich Präsenzunterricht an Schulen, https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Tonne-will-so-lange-wie-moeglich-Praesenzunterricht-an-Schulen,corona4870.html.

[5] SZ 23.10.2020, Haltet sie auf! (https://www.sueddeutsche.de/bildung/corona-schulschliessung-maskenpflicht-unterricht-1.5092010).

[6] SZ 23.10.2020, Der große Flickenteppich, https://zeitung.sueddeutsche.de/webapp/issue/sz/2020-10-23/page_2.434815/article_1.5089748/article.html). Einen Kommentar über die praktischen Auswirkungen der derzeitigen Corona-Wirren auf die Schulen hat aus Sicht betroffener Lehrkräfte Florian Kohl letzte Woche verfasst: https://joschafalck.de/taeglich-einen-apfel.

[7] Deutsches Ärzteblatt 3.6.2020, SARS-CoV-2: Drosten bleibt bei Aussagen zur Ansteckungsgefahr durch Kinder, https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113465/SARS-CoV-2-Drosten-bleibt-bei-Aussagen-zur-Ansteckungsgefahr-durch-Kinder.

[8] Tomás Pueyo, Coronavirus: The Hammer and the Dance (19.3.2020), https://medium.com/@tomaspueyo/coronavirus-the-hammer-and-the-dance-be9337092b56.

[9] SZ 26.10.2020, Merkel will am Mittwoch über neue Regeln beraten, https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-pandemie-merkel-will-am-mittwoch-ueber-neue-regeln-beraten-1.5094710.

[10] Der Tagesspiegel, 28.4.2020, „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, https://www.tagesspiegel.de/politik/boris-palmer-provoziert-in-coronavirus-krise-wir-retten-moeglicherweise-menschen-die-in-einem-halben-jahr-sowieso-tot-waeren/25782926.html. Das vollständige siebenminütige Interview mit Palmer, das im SAT 1-Frühstücksfernsehens am 28.4.2020 stattfand, findet sich unter folgendem Link: https://www.sat1.de/tv/fruehstuecksfernsehen/video/202082-oberbuergermeister-boris-palmer-spricht-ueber-die-deutsche-wirtschaft-clip (ab 3:07 min. die umstrittenen Äußerungen).

[11] Ausgegangen wird von einem Wirtschaftswachstum 2020 von 1,9 Prozent (https://www.tagesschau.de/wirtschaft/boerse/china-wirtschaftswachstum-111.html). Die Bundesregierung erwartet hingegen in diesem Jahr einen Rückgang der deutschen Wirtschaft um 5,8 % (https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/wirtschaftliche-entwicklung.html).

[12] Vgl. Julia Hauser, Demaskiert: Covid-19 und die kulturelle Dimension der Debatten um die Maskenpflicht, in: Geschichte der Gegenwart 8.4.2020, https://geschichtedergegenwart.ch/demaskiert-covid-19-und-die-kulturelle-dimension-der-debatten-um-die-maskenpflicht.

[13] Die Zeit 22.2.2020, Ärztepräsident zweifelt Nutzen von Masken an, https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-10/klaus-reinhardt-aerztepraesident-masken-schutz-karl-lauterbach.

[14] SZ 27.10.2020, Medienbericht: Merkel für begrenzten Lockdown, https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-news-deutschland-merkel-lockdown-1.5093731.

[15] Der Spiegel 27.10.2020, SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach wirbt für “Wellenbrecher-Shutdown”, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-pandemie-karl-lauterbach-wirbt-fuer-wellenbrecher-shutdown-a-6f0358fc-e2b0-4747-be11-6ba5f69772db#ref=rss?sara_ecid=soci_upd_wbMbjhOSvViISjc8RPU89NcCvtlFcJ.