#NoCovid: Eine australische Corona-Strategie findet ihren Weg nach Deutschland

Wie müde sind wir alle von diesem Winter-Lockdown! Und doch befindet sich Deutschland trotz momentaner Besserung der Coronalage schon wieder am Beginn einer dritten, diesmal von neuen Virusmutationen getriebenen COVID-19-Welle, die es abzufangen gilt. Statt ersehnter Lockerungen stehen uns also weitere Wochen der landesweiten Kontaktbeschränkungen bevor. Doch geht es auch anders? NoCovid heißt eine alternative Strategie, die auf regional begrenzte Corona-befreite „Grüne Zonen“ setzt. Mit ihr soll auf der Ebene der Städte und Landkreise ein nachhaltiger Weg aus dem Lockdown-Jojo gefunden werden, das wir nun seit Monaten erleben. Aber welche Köpfe stecken eigentlich hinter diesem neuen Masterplan? Was bedeutet er konkret? Und kann NoCovid überhaupt im dicht bevölkerten Mitteleuropa funktionieren?

Deutschland Ende Februar 2021: Wenngleich die Vorfrühlingssonne seit Tagen das Land verwöhnt, bleiben die Aussichten für die kommenden Monate trübe. Ein Jahr hat die COVID-19-Pandemie das Land schon im Griff, und aufgrund des Schneckentempos bei der Ende Dezember begonnenen Corona-Impfkampagne wird sich daran 2021 wohl nur sehr langsam etwas ändern.

Harter Shutdown, Sommerfreiheiten und verpatzter Lockdown 2 – ein wechselvolles Jahr der Corona-Bekämpfung im Rückblick

Dabei war doch die erste Corona-Welle im vergangenen Frühjahr mit einem harten Shutdown kurz und erfolgreich bekämpft worden. Und darauf folgte ein halbwegs erträglicher Sommer mit einer relativ geringen Virusverbreitung – unter Maßgabe von Abstands- und Hygieneregeln konnte sich das öffentliche Leben so zwischen Juni und September zu einem Gutteil wieder normalisieren. Doch als im Herbst, wie von Epidemiologen vorhergesagt, die Zahl der Neuinfektionen wieder stieg, missriet die Bekämpfung der zweiten Corona-Welle. Erst warteten die politisch Verantwortlichen zu lange damit, Kontakteinschränkungen zu verhängen. Dann wurden – was sich im Nachhinein als der verhängnisvollste Fehler des Jahres herausstelle – zu spät die nur unzureichend wirksamen Maßnahmen des „Lockdown light“ zum „Lockdown 2“ verschärft. So stieg die Infektionsrate im Dezember bis auf eine landesweite Inzidenz von beinahe 200. Fast 60.000 Menschen fielen der in dieser Schwere eigentlich für Deutschland vermeidbar gewesenen zweiten Corona-Welle zum Opfer.

Nach mehr als zwei Monaten im „Lockdown 2“ hat sich die Verbreitung von COVID-19 inzwischen zum Glück wieder verringert. Mit durchschnittlich knapp 8000 Neuinfektionen pro Tag und einem Inzidenzwert von 67 liegen die Zahlen aber noch deutlich über der angestrebten Marke:[1] Die Regierenden in Bund und Ländern hatten zunächst als Zielwert eine Inzidenz von 50 erkoren, dann aber auf der vorletzten Ministerpräsidentenkonferenz auf 35 abgesenkt. Eine Zahl von wöchentlich maximal 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner ist als Schwellenwert auch in dem 2020 geänderten Bundesinfektionsschutzgesetz enthalten, wobei diese Festsetzung nicht unumstritten ist. Denn von Experten wird bezweifelt, dass eine vollständige Rückverfolgung von Infektionsketten bei einer so hohen Inzidenz möglich ist.[2]

Verfrühte Lockerungen trotz erhöhter Inzidenzen: Lockdownmüdigkeit und Nervenflattern

Die Verschärfung des Ziel-Inzidenzwerts auf 35 hat mit der geänderten Gefahrenlage zu tun, die sich aus der Verbreitung von neuen, aus Großbritannien und Südafrika direkt oder über Nachbarländer nach Deutschland eingeschleppten Virusmutationen ergibt. Denn der Ansteckungsgrad der fraglichen Mutationen B.1.1.7 und B.1.351 wird im Vergleich zum bislang noch in Deutschland vorherrschenden Wildtyp von SARS-CoV-2 als höher eingestuft. Nachdem der rückläufige Trend bei den täglichen Neuinfektionszahlen zum Stillstand gekommen ist und sich sogar wieder ins Gegenteil zu verkehren beginnt, wächst die Sorge vor einer neuen, nun vor allem von der britischen Mutation getriebenen Corona-Welle.

Insofern muss es erstaunen, dass ungeachtet dessen Forderungen nach Lockerungen des „Lockdowns 2“ die Debatten weiter bestimmen. Erste Schritte waren bereits auf der letzten Ministerpräsidentenkonferenz verabredet worden: Zunächst wurden in fast allen Bundesländern die Grundschulen und Kitas vollständig oder mit verkleinerten Gruppen im Wechselbetrieb geöffnet. Morgen, am 1. März, werden dann bundesweit Friseursalons wieder öffnen. Vor der nächsten, eigentlich für die Koordinierung weiterer Schritte vorgesehenen Bund-Länder-Runde in der kommenden Woche preschen nun einige Ministerpräsident:innen mit weiteren Lockerungen vor: Unterricht für Abschlussklassen, Öffnung von Kosmetik- und Nagelstudios, von Blumenläden, Garten- oder Baumärkte, von Zoos oder Museen sowie die Zulassung von Freischankflächen – vieles ist im Gespräch, anderes regional schon in die Wege geleitet.[3] Irritierend daran ist, dass das reale Infektionsgeschehen vor Ort nicht immer das entscheidende Kriterium zu sein scheint, sondern eher das Nervenflattern der Länderchefs. So öffneten ausgerechnet zwei Bundesländer mit überdurchschnittlich hohen Inzidenzwerten mit als Erste ihre Grundschulen für den Vollbetrieb: Sachsen (Inzidenz: 90) und Thüringen, mit 129 republikweiter Inzidenz-Spitzenreiter.

Vorbild Österreich? Pandemiepopulismus nach Art des Sebastian Kurz

Freilich ist die in der Bevölkerung wie unter den Regierenden um sich greifende Lockdownmüdigkeit nach den monatelangen Kontakteinschränkungen verständlich. Fatal wäre es jedoch, wenn das derzeitige Motivationstief dazu führen würde, dem in die dritte Welle startenden Virus freien Lauf zu lassen. Rechte Populisten – Trump und Bolsonaro – waren die ersten, die sich letztes Jahr diese Politstrategie zu Eigen gemacht haben. „Mit dem Virus leben“ wurde gerne als Überschrift dafür gewählt, wenngleich es ehrlicherweise „Mit dem Virus leben und sterben“ hätte heißen müssen. Verantwortungsloser Pandemiepopulismus, der mit dem Leben der Risikogruppen Roulette spielt, findet sich aber auch bei Rechtsliberalen oder Sozialdemokraten, wie die Beispiele der Niederlande und Schwedens gezeigt haben. Aktuell wandelt ein junger Shootingstar der konservativen Mitte, Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, auf diesem bequem erscheinenden Pfad: Dass bei Inzidenzen von über 100 schon Anfang Februar wieder Schluss mit dem Winter-Lockdown der Alpenrepublik war, begründete Kurz mit dem wachsenden Unmut in der Bevölkerung: “Egal, ob in Österreich oder in Deutschland oder anderswo in Europa: Jedem reicht’s schon langsam.” Und den inzwischen gemessenen Anstieg der Neuinfektionen (aktuelle Inzidenz: 156) versucht Kurz folgendermaßen schönzureden: Immerhin sei die Zunahme doch „langsamer als zum Beispiel in Irland oder Portugal, wo die Zahlen ja explosionsartig gestiegen sind.“[4]

Derartigen Pandemiepopulismus wird man Angela Merkel nicht vorwerfen können. Die Kanzlerin möchte möglichst keine weiteren Lockerungen zulassen, bis eine ausreichende Eindämmung des Infektionsgeschehens erreicht ist. Fraglich ist nur, ob sich dieser Kurs, der im Januar unter dem Eindruck von täglich tausend Coronatoten Konsens war, immer noch durchsetzen lässt. Denn zweifellos kann wirksamer Seuchenschutz in einer Demokratie nur schwer gegen den erklärten Willen eines Großteils der Bevölkerung durchgedrückt werden.

Vorbild Australien: Ist die Zeit reif für einen Strategiewechsel in Deutschland?

Ein Ausweg aus dieser schwierigen Lage könnte ein mutiger Schritt sein, den Australien bereits im vergangenen Sommer gegangen ist: Der Strategiewechsel von der bloßen Eindämmung der massenhaften Verbreitung von SARS-CoV-2 zu seiner weitgehenden Eliminierung.[5] Es mag zunächst widersprüchlich klingen, ausgerechnet in der jetzigen Lage diese unter dem Twitter-Hashtag #NoCovid bekannt gewordene Strategie ins Spiel zu bringen. Doch eröffnet sie aufgrund ihrer Fokussierung auf Fortschritte in regionalen oder lokalen Einheiten eine Perspektive für eine nachhaltige Normalisierung des öffentlichen Lebens und damit für ein Ende des ermüdenden Lockdown-Jojos.

Während in Australien bereits bald nach der ersten Welle dieser Strategiewechsel vollzogen wurde, wird eine derartige Vorgehensweise in Europa erst seit Ende des vergangenen Jahres vermehrt diskutiert. Zwar war schon in den Monaten davor immer wieder über die Erfolge in der Pandemiebekämpfung berichtet worden, die Länder des Pazifikraums vorzuweisen haben. Zumeist richtete sich die Perspektive aber auf Südostasien und es überwog dabei der Tenor, dass Rezepte aus Staaten wie China, Taiwan oder Korea auf die Gegebenheiten in Europa schwer übertragbar seien.

Der alte Kontinent entdeckt pandemisch den Pazifik neu: der Aufruf im „Lancet“ vom 18.12.2020

Am 18. Dezember lancierten dann aber führende europäische Corona-Experten einen Aufruf, in dem sie unter dem Eindruck des Europa schwer beutelnden Corona-Winters einen radikalen Strategiewechsel bei der Bekämpfung der Pandemie nach Vorbild der Länder im Pazifikraum forderten. Von einer zwanzigköpfigen Autorengruppe, zu der die Physikerin Viola Priesemann, die Virologin Melanie Brinkmann und der am ifo-Institut forschende Makroökonom Andreas Peichl gehörten, wurde hierzu in der Medizinzeitschrift „The Lancet“ ein Papier unter der Überschrift „Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections“ verfasst, das über 300 Wissenschaftler:innen unterstützten. Ihren Namen unter den Aufruf setzten unter anderen der Charité-Virologe Christian Drosten, RKI-Präsident Lothar Wieler, der Soziologe Armin Nassehi, der Leiter des Ifo-Instituts Clemens Fuest, der System-Immunologe Michael Meyer-Hermann und der Medizinphysiker Matthias Schneider.[6] Gefordert wurde in dem Text eine nachhaltige Reduzierung der COVID-19-Fallzahlen in Europa. Aufgrund der Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 reiche es nicht aus, sich vorrangig auf die Belastungsgrenzen der Gesundheitssysteme zu fokussieren. Vielmehr müsse zur Rückgewinnung der Kontrolle über die Virusverbreitung ein niedriger Grenzwert im Bereich einer Wocheninzidenz von nur zehn Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner angestrebt werden.

Die Grundidee dieses Konzepts stammte dabei aus einem Lancet-Paper, das fünf Wochen zuvor unter Mitwirkung von Viola Priesemann erschienen war.[7] Darin wurde anhand von Großbritannien, das gerade von der zweiten COVID-19-Welle heimgesucht wurde, diskutiert, welche Bausteine für eine nachhaltige Pandemie-Strategie nötig sein, mithilfe derer dauerhaft die Kontrolle über das Infektionsgeschehen wiedererlangt werden könne.

Wesentliche Eckpunkte der NoCovid-Strategie waren so bereits Ende 2020 im „Lancet“ formuliert worden. Medienwirksam aufgegriffen wurden diese Ideen dann bereits am 12. Januar von einer Initiative, die sich für einen „solidarischen ZeroCovid-Strategiewechsel“ einsetzte und dafür mit einer europaweiten Online-Petition warb. Unter dem Slogan „#ZeroCovid“ fand sie auf der Plattform „WeAct“ rasch gut 100.000 Unterstützer. Die Autor:innen dieses Aufrufs, zu dessen Erstunterzeichnenden neben Beschäftigten des Gesundheitssektors auch prominenten Namen aus der Kultur, den Medien und den Hochschulen zählten, formulierten als Zielsetzung, „die Ansteckungen auf Null zu reduzieren“, wozu ein Shutdown als „solidarische Pause von einigen Wochen“ nötig sei. Im Anschluss daran müssten niedrige Fallzahlen „mit einer Kontrollstrategie stabil gehalten und lokale Ausbrüche sofort energisch eingedämmt werden“.[8]

#NoCovid will nicht #ZeroCovid sein: das Konzept der Wissenschaftlergruppe um Melanie Brinkmann und Clemens Fuest

Wenige Tage später meldete sich eine vierzehnköpfige Gruppe von Wissenschaftler:innen mit einem neuen Papier öffentlich zu Wort. Fünf von ihnen hatten bereits den Lancet-Aufruf vom 18.12. mitverfasst oder unterstützt, nämlich die Virologin Brinkmann, der System-Immunologe Meyer-Hermann, der Medizinphysiker Schneider sowie die ifo-Ökonomen Fuest und Peichl. Zusätzlich unterstützt wurden sie von weiteren Professor:innen anderer Fachrichtungen wie etwa dem Soziologen Heinz Bude, der Politologin Elvira Rosert oder dem Pädagogen Menno Baumann. Die 14 Wissenschaftler:innen versuchten sich bereits durch die Verwendung eines neuen Hashtags, nämlich #NoCovid, später noch ergänzt durch #YesToNoCovid, in den sozialen Medien von dem #ZeroCovid-Aufruf sprachlich deutlich abzugrenzen. Das hatte zum einen parteipolitische Gründe, da der #ZeroCovid-Aufruf überwiegend von linksorientierten Kräften unterstützt wurde, während die #NoCovid-Initiatoren lagerübergreifend Verbündete finden wollten. Zum anderen lehnten die #NoCovid-Autor:innen einen nochmaligen europaweiten harten Shutdown, wie er von #ZeroCovid gefordert wurde, aufgrund der hohen volkswirtschaftlichen Kosten ab.

Angelehnt an die praktischen Vorbilder in Australien und Neuseeland veröffentlichte die Autorengruppe um Melanie Brinkmann und Clemens Fuest so in zwei Schritten ihre Ideen zu einer #NoCovid-Strategie für Deutschland. Am 18. Januar publizierte sie zunächst ein Rahmenpapier unter dem Titel „Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2“, dem am 10. Februar dann eine ausführlichere Darstellung von „Handlungsoptionen“ folgte.[9]

NoCovid basiert nicht auf der Ausrottung des Virus, sondern auf einer kontrollierbaren Niedriginzidenz

Dass die #NoCovid-Gruppe in ihrem Grundansatz mit der von ihnen kritisierten #ZeroCovid-Initiative durchaus kompatibel ist, zeigt sich allerdings bereits in der Formulierung ihres Kerngedankens:

„Unsere Strategie umfasst eine Abkehr von der bisher verfolgten Eindämmungsstrategie (“mit dem Virus leben”). Wir schlagen Ideen und Ansätze für eine proaktive lokale Eliminationsstrategie vor, die das Ziel einer nachhaltig niedrigen Inzidenz – im Idealfall null – verfolgt.“[10]

Als konkreten Inzidenz-Grenzwert greifen die Autor:innen dabei die Zahl auf, die schon in dem Lancet-Aufruf vom 18. Dezember genannt war, also maximal zehn Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner wöchentlich. Entscheidend sei aber vor allem, dass es zu keiner unkontrollierten Virenverbreitung mehr komme. Solange bei Neuinfektionen eine Nachverfolgung möglich bleibe und Infizierte sowie ihre Kontaktpersonen unter Quarantäne gestellt bzw. zügig getestet werden, gelten sie auch im NoCovid-Modell noch als unproblematisch. Es geht also nicht um eine Ausrottung des Virus, sondern um die Rückgewinnung der vollständigen Nachverfolgungsmöglichkeit, die nach Einschätzung der Wissenschaftlergruppe aber nur bei einem sehr niedrigen Inzidenzwert möglich ist.

Weitgehende Eliminierung des Virus in regional begrenzten Zonen: So könnte NoCovid praktisch vor Ort funktionieren

Eine Inzidenz von unter 10 bundesweit zu erreichen, erscheint allerdings schwierig, wenngleich die Sommermonate 2020 gezeigt haben, dass das nicht unmöglich ist. Jedoch geht es im NoCovid-Modell bei der Erreichung eines Zustands der weitgehenden SARS-CoV-2-Elimination nicht gleich um das ganze Land, sondern um kleinere politisch-geografisch zusammengehörende Zonen – für Deutschland bietet sich hierzu die Ebene von Landkreisen, größeren Städten oder Metropolregionen an. In jeder dieser Zonen soll zunächst das Inzidenzziel von 10  erreicht werden. Ist das geschafft, gilt eine Zone als „gelb“ und kann mit vorsichtigen Lockerungen von Kontakteinschränkungen beginnen.

Sofern dieser Zustand über zwei Wochen zu keinen COVID-19-Neuinfektionen unbekannten Ursprungs führt, wechselt der Status der Zone auf „grün“. Nun kann unter Maßgabe von verbesserten Schutzmaßnahmen (AHAL-Regeln sowie insbesondere intensivierte Testroutinen) das öffentliche Leben wieder schrittweise normalisiert werden – ähnlich, wie wir es im vergangenen Sommer erlebt haben.

Dithmarschen und Kaufbeuren wären die ersten Gelbe Zonen

Aktuell gäbe es in Deutschland allerdings nur zwei Kreise, die sich aufgrund von Inzidenzen unter 10 umgehend zur Gelben Zone erklären und mit vorsichtigen Lockerungen beginnen könnten: Dithmarschen an der Nordseeküste und Kaufbeuren in Bayerisch-Schwaben. Dazu kämen aber noch fünf weitere Kreise, die diesem Ziel bereits so nahe wären, dass es dort mit etwas zusätzlichem Einsatz schon binnen ein oder zwei Wochen erreichbar schiene, und zwar in Kaiserslautern (7-Tages-Inzidenz 11), Donau-Ries und Lüchow-Dannenberg (beide 12), Schweinfurt (15) sowie Kusel (19).[11]

Weitere Gebiete mit Inzidenzen im niedrigeren zweistelligen Bereich (unter dem Wert 35 liegen momentan 56 Kreise, viele davon im Süden der Republik) könnten es ebenfalls innerhalb von wenigen Wochen schaffen, nicht mehr als im Lockdown befindliche „rote Zone“ gelten zu müssen. Nötig wären hier vermehrte gemeinsame Anstrengungen zur Senkung des R-Wertes – dazu gehört neben Kontakteinschränkungen und einer konsequenten Umsetzung der AHAL-Regeln natürlich auch besonders effektive Test-, Tracing und Isolationsstrategien (TTI) sowie eine möglichst zügige Erhöhung der Impfrate.

Denn genau darauf zielt der NoCovid-Ansatz ab: Dass überschaubare regionale Einheiten ein klares Ziel vor Augen haben, um Bürger:innen und politisch Verantwortlichen verstärkt zu motivieren, alle verfügbaren Möglichkeiten zur Senkung und zur vollständigen Kontrolle des Neuinfektionsgeschehens zu ergreifen, bis der Status einer Grünen Zone erreicht ist.

NoCovid contra Sisyphos: die Kontrolle der Mobilität zwischen Roten und Grünen Zonen

Neben der Mobilisierung der Pandemiebekämpfung in regional überschaubare Einheiten ist die Kontrolle der Mobilität ein wesentlicher Bestanteil des NoCovid-Modells. Denn um die in einer Grünen Zone erreichte vollständige Kontrolle des Neuinfektionsgeschehens zu erhalten, gilt es zu vermeiden, dass infizierte Personen von außen das Virus wieder neu in die Grüne Zone einschleppen. Personenverkehr aus Roten Zonen hinein in Grüne Zonen kann deshalb nicht schrankenlos zugelassen werden – vor allem Tests, aber auch Quarantänemaßnahmen werden hier zur Kontrolle angewendet.

Sofern Grüne Zonen aneinandergrenzen, kann jedoch auf Mobilitätsbeschränkungen verzichtet werden. Damit ist ein Anreiz für Anstrengungen gegeben, den Bereich der Grünen Zonen schrittweise zu größeren zusammenhängenden Gebieten auszuweiten.

Dass derartige Mobilitätsbeschränkungen wirksam sein können, hat übrigens Mecklenburg-Vorpommern im September und Oktober 2020 einige Woche lang uns vorgeführt. Denn während die Inzidenzen deutschlandweit bereits Anfang September wieder spürbar zu steigen begannen, wurde im hohen Norden die 10er-Inzidenz erst Mitte Oktober überschritten – in den Küstenlandkreisen sogar noch später. Geholfen hatten hier offenbar auch die von der Landesregierung zeitweise verhängten Mobilitätsbeschränkungen und Beherbergungsverbote.

Pandemiebekämpfung mit Anreizen für die lokale Eigenverantwortlichkeit

Zusammengefasst ist NoCovid also ein Lösungsansatz für die Pandemiekrise, der statt einer Eindämmung durch landesweite „Lockdowns“ nun die weitgehende und nachhaltige Eliminierung des Virus mittels einer lokal koordinierten und differenzierten Zugriffsweise sowie durch eine Kontrolle der Mobilität zwischen Regionen mit unterschiedlich hohem Infektionsgeschehen erreichen möchte. Der Weg von der „Roten Zone“ zur „Grünen Zone“ erscheint hart, doch besteht danach die Aussicht, eine schrittweise Normalisierung des Lebens zumindest innerhalb der eigenen Zone wieder ermöglichen zu können – und das relativ unabhängig vom Seuchengeschehen anderswo in der Republik.

Sollte es in einer „Corona-befreiten“ Zone aber doch zu nicht mehr nachverfolgbaren Neuausbrüchen kommen, muss als Gegenmaßnahme örtlich begrenzt zügig reagiert werden („lokales Ausbruchsmanagment“[12]). Sofern ein intensiviertes TTI-Regime nicht mehr ausreicht, kann aber mit einem nur auf die betroffene Zone begrenzten Kurz-Lockdown, wie Beispiele in Australien gezeigt haben, die Situation rasch wieder unter Kontrolle gebracht werden, ohne dass deswegen die Nachbarregionen automatisch mitbeeinträchtigt werden.

Abschied vom Fokus auf die national gesteuerte Seucheneindämmung?

Von der Grundidee erscheint „NoCovid“ als ein bestechend einfaches Modell, das aber mit zwei in Europa vorherrschenden Vorstellungen der Pandemiebekämpfung bricht: Einerseits geht es nicht mehr nur um eine „Eindämmung“ des Virus, für die die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems eine maßgebliche Größe ist. Denn dafür ist COVID-19 schlicht zu gefährlich und entwickelt sich zu dynamisch. Andererseits setzt „NoCovid“ nicht mehr auf eine zentral gesteuerte, möglichst stark vereinheitlichte nationale Pandemiebekämpfung, sondern baut auf die Flexibilität und Eigenverantwortung von überschaubaren lokalen Einheiten.

In ihrem zweiten Papier hat die NoCovid-Autor:innengruppe verschiedene „Handlungsoptionen“ in vier „Toolboxen“ unter den Überschriften „Mit Grünen Zonen zu dauerhaften Lockerungen“, „No-COVID Partnership Europe“, „Test – Trace – Isolate (TTI)“ sowie „Wirtschaft und Arbeitsmarkt“ näher beschrieben. Dazu wurde die Veröffentlichung weiterer Papiere mit der Ausarbeitung zusätzlicher „Handlungsoptionen“ in einem Twitter-Account des NoCovid-Projekts angekündigt. Außerdem verweisen die 14 Wissenschaftler:innen darauf, dass für eine Umsetzung des Konzepts die Unterstützung von Experten aus Australien und Neuseeland bereitstehe.

NoCovid ohne Zonen? Die „Stufenpläne ohne Jojo-Effekt“

Neben den Autor:innen der beiden NoCovid-Papers hat sich in der vergangenen Woche noch eine weitere prominente Gruppe von sieben Wissenschaftler:innen mit einem ähnlichen Ansatz unter dem Titel „Stufenpläne ohne Jojo-Effekt“ zu Wort gemeldet. [13] Sechs von ihnen hatten bereits den Aufruf „Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections“ vom 18. Dezember unterstützt; Sandra Ciesek, Thomas Czypionka und Viola Priesemann waren sogar Mitautoren dieses Papiers gewesen. Auch diese Gruppe rät in ihrem Debattenbeitrag, zumindest „mittelfristig“ eine Inzidenz von 10 anzupeilen. Dazu warnt sie vor verfrühten Lockerungen und den Negativfolgen einer „Stagnation auf zu hohem Niveau“. Insgesamt schlagen Ciesek und ihre Kolleg:innen eine „Strategie einer lokalen, differenzierten Eindämmung vor, bei der man akzeptiert, dass es lokal zu kleinen Ausbrüchen kommen kann, die Inzidenz aber trotzdem konsequent gesenkt und niedrig gehalten wird.“ Trotz der Nähe zum NoCovid-Konzept fehlt allerdings ein direkter Verweis darauf. Ein wesentlicher Unterscheidungspunkt der „Stufenpläne ohne Jojo-Effekt“ zu #NoCovid ist der Verzicht auf ein regionales Zonenmodell mit Mobilitätsbeschränkungen. Offenbar ist das im Vergleich zu den beiden NoCovid-Texten wesentlich kürzere Papier, an dem auch der Münchner Soziologe Nassehi mitgewirkt hat, als Rahmenempfehlung an die Politik für die Gestaltung eines Stufenplans gedacht, der für die kommende Woche erwartet wird.

Viel mediale Aufmerksamkeit für #NoCovid, aber Zweifel an der Umsetzbarkeit

Darüber hinaus ist in den letzten Wochen eine Vielzahl an Medienbeiträgen über „NoCovid“ erschienen, wobei das Konzept häufig wohlwollend kommentiert wird, aber dennoch auf Zweifel hinsichtlich seiner Umsetzbarkeit stößt. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein inzwischen über 700.000 Mal abgerufenes YouTube-Video der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim. Unter dem Titel „Versöhnung“ stellt sie darin in wenigen Minuten die Grundideen der NoCovid-Strategie schlüssig dar, kommt aber am Ende doch zu einem eher resignativen Résumé: „Aber so emotional, so hitzköpfig, so feindselig, wie momentan diskutiert wird… Manchmal glaube ich, allein deswegen könnte No-Covid nicht funktionieren, weil die Strategie voraussetzt, dass wir alle an Bord sind.“[14]

Zwischen Zustimmung und Zaudern: Reaktionen aus der Politik

Nicht so viel anders wie Mai Thi Nguyen-Kim klang vor zweieinhalb Wochen auch der bayerische Ministerpräsident Söder. Im heute-journal erklärte er nach der letzten Bund-Länder-Konferenz, er „wäre schon ein Anhänger einer NoCovid-Strategie“, doch gebe es dafür keine ausreichende Zustimmung unter seinen Amtskolleg:innen.[15] In der Tat hat sich außer ihm bislang sonst kein anderer Länderchef für NoCovid ausgesprochen. Jedoch zeigte der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Ralph Brinkhaus bei der Bundestagsdebatte über die Beschlüsse der letzten MPK kürzlich Sympathien für eine Zielorientierung an der 10er-Inzidenz.[16] Ähnlich wie er haben auch andere Bundestagsabgeordneten Zustimmung zu Grundgedanken des NoCovid-Konzepts geäußert, so die Gesundheitsexperten von SPD und Grünen, Karl Lauterbach und Janosch Dahmen. Zu den erklärten Unterstützern der Idee zählt außerdem der bayerische Linken-Bundestagsabgeordnete Andreas Wagner.[17] Auf kommunaler Ebene sympathisieren zwei rheinländische Metropolenchefinnen öffentlich mit NoCovid: die den Grünen nahestehenden Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker[18] und ihre grüne Bonner Amtskollegin Katja Dörner.[19]

Wenngleich der Kreis der Unterstützer:innen aus der Politik für NoCovid noch recht überschaubar ist, finden sich so doch prominente Stimmen darunter. Aber auch wenn es hinter vorgehaltener Hand sogar im Kanzleramt Sympathien für diese Idee geben sollte (denn immerhin gehört NoCovid-Autorin Melanie Brinkmann zu den von Merkel regelmäßig zu Rate gezogenen Virologinnen), ist auf dem Bund-Länder-Gipfel der kommenden Woche hier wohl kein Durchbruch zu erwarten.

Eine Chance als regionaler Modellversuch?

Vielmehr scheint es am ehesten denkbar, dass NoCovid beispielhaft von einzelnen Regionen umgesetzt werden könnte. Hierzu bräuchte es als rechtlichen Rahmen aber zumindest die Zustimmung einer deutschen Landesregierung, denn nur so könnte wohl ein Modellversuch mit den notwendigen Sonderbestimmungen vor Ort rechtssicher starten. Angesichts des öffentlichen Votums von Reker und Dörner würde sich als Erstes die Metropolregion Köln/Bonn anbieten, doch steht dem der Lockerungskurs der schwarz-gelben NRW-Landesregierung entgegen.[20]

Erinnern wir uns aber zurück an den Anfang der Corona-Krise im vergangenen März. Da war es Markus Söder, der in Bayern mit der Verhängung eines Lockdowns vorpreschte und so den zögernden Armin Laschet als Wortführer der Bremser allzu strenger Kontakteinschränkungen zum Einlenken zwang. Damit legte Söder den Grundstein für seinen demoskopischen Höhenflug in bis dato ungeahnte Beliebtheitswerte. Bis jetzt ist es sein Erfolgsrezept geblieben, sich im Rennen um die Unions-Kanzlerkandidatur als Gegenpol zu Laschet darzustellen. Was könnte da für den bayerischen Ministerpräsidenten eigentlich näher liegen, als unter seiner Schirmherrschaft einen NoCovid-Modell-Versuch in geeigneten Niedriginzidenz-Landkreisen alsbald zu starten?

Anmerkungen:

[1] Die in diesem Beitrag genannten Zahlen zu COVID-19 sind, soweit nicht anders vermerkt, sämtlich aus dem Coronavirus-Monitor der Berliner Morgenpost entnommen (Stand 28.2.2021, 15 Uhr): https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit. Als Datenquelle werden hier angegeben: Johns Hopkins University CSSE (internationale Daten von WHO, CDC (USA), ECDC (Europa), NHC, DXY (China), Risklayer/Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Meldungen der französischen Ämter und der deutschen Behörden (RKI sowie Landes- und Kreisgesundheitsbehörden).

[2] Vgl. Neue deutsche Schwelle, in: Süddeutsche Zeitung 17.2.2021, https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-inzidenz-schwellenwerte-50-35-1.5208343.

[3] Mecklenburg-Vorpommern öffnet Gartencenter, Zoos und Nagelstudios, in: Der Spiegel 25.2.2021, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/mecklenburg-vorpommern-oeffnet-wieder-baumaerkte-zoos-und-nagelstudios-a-8012c41c-3a61-437a-bb27-73d780c31b49#ref=rss?sara_ecid=soci_upd_wbMbjhOSvViISjc8RPU89NcCvtlFcJ; Söder, der Getriebene, in: Süddeutsche Zeitung 27.2.2021, https://www.sueddeutsche.de/bayern/soeder-corona-oeffnungen-1.5219258.

[4] Kurz erklärt Ausstieg: “Lockdown hat nach sechs Wochen seine Wirkung verloren”, in: Focus 25.2021, https://www.focus.de/politik/ausland/setzt-auf-massentests-kurz-erklaert-ausstieg-lockdown-hat-nach-sechs-wochen-seine-wirkung-verloren_id_13018988.html.

[5] Vgl. hierzu das Zeit-Interview mit dem australische Gesundheitsökonom Stephen Duckett: “Fangt einfach an”, in: Die Zeit 25.2.2021, https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2021-02/nocovid-australien-corona-strategie-deutschland-stephen-duckett.

[6] Viola Priesemann u.a., Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections, in: The Lancelet 18.12.2020, https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)32625-8/fulltext.

[7] Deepti Gurdasani u.a.: The UK needs a sustainable strategy for COVID-19, in: The Lancelet 9.11.2020, https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32350-3.

[8] „#ZeroCovid. Das Ziel heißt Null Infektionen! Für einen solidarischen europäischen Shutdown“, Online-Aufruf vom 12.1.2021, https://zero-covid.org/.

[9] Menno Baumann u.a., Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2, Online-Publikationen vom 18.1.2021 (Rahmenpapier) u. 10.2.2021 (Handlungsoptionen), https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_rahmenpapier.pdf u. https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_handlungsoptionen.pdf.

[10] Ebd., Handlungsoptionen, S. 2.

[11] Inzidenzwerte zu Stadt- und Landkreisen in diesem Absatz entsprechend den Angaben der Webseite „Risklayer“ vom 28.2.2021 (Stand 17.30 Uhr), https://www.risklayer-explorer.com/event/100/detail.

[12] Menno Baumann u.a., Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2, Online-Publikationen vom 10.2.2021 (Handlungsoptionen), https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_handlungsoptionen.pdf, S. 2.

[13] Sandra Ciesek u.a., Stufenpläne ohne Jojo-Effekt, Online-Publikation vom 19.2.2021, https://www.mpg.de/16463455/strategie-corona-covid-19; leicht geändert und gekürzt erschien der Text unter der Überschrift „Eine Perspektive ohne Auf und Ab“ bereits zwei Tage zuvor als Gastbeitrag in der „Zeit“: https://www.zeit.de/2021/08/corona-strategie-lockdown-stufenplan-wissenschaftler-lockerungen/komplettansicht.

[14] maiLab (d.i. Mai Thi Nguyen-Kim), Versöhnung, https://www.youtube.com/watch?v=bE315x4Vbf0 (25.2.2021).

[15] “Können dann die Zeitpläne etablieren”, https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/koennen-dann-die-zeitplaene-etablieren-100.html (10.2.2021); Söder will „No-Covid“-Strategie mit neuer Ampel für Bayern – doch der Widerstand ist zu groß, in: Münchner Merkur 18.2.2021 (aktualisierte Fassung), https://www.merkur.de/politik/soeder-coronavirus-ampel-bayern-no-covid-strategie-ueberblick-90201317.html.

[16] Einer erklärt’s der Regierung, in: Der Spiegel 11.2.2021, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkel-und-ralph-brinkhaus-zur-corona-politik-einer-erklaert-s-der-regierung-a-249b34cb-9441-4700-a7fb-192b05a499b6.

[17] Brief an Ministerpräsident Söder: MdB Wagner wirbt für No-Covid-Strategie, https://andreaswagner.die-linke-bayern.de/nc/im-bundestag/reden/detail/news/offener-brief-an-ministerpraesident-soeder-mdb-andreas-wagner-fordert-mehr-busse-fuer-schuelerbefoer/(8.2.2021).

[18] Oberbürgermeisterin Henriette Reker befürwortet No-Covid-Strategie, https://www.koeln.de/koeln/nachrichten/lokales/koelns-oberbuergermeisterin-henriette-reker-befuerwortet-no-covid-strategie_1168096.html (17.2.2021).

[19] Bonner OB Dörner unterstützt „No-Covid-Strategie“, in: Generalanzeiger 17.2.2021, https://ga.de/bonn/stadt-bonn/bonn-ob-doerner-unterstuetzt-no-covid-strategie_aid-56317457?utm_source=twitter&utm_medium=referral&utm_campaign=share.

[20] Corona in NRW: Konkreter Zeitplan für Lockerungen liegt schon vor, in: Westfälischer Anzeiger 27.2.2021, https://www.wa.de/nordrhein-westfalen/corona-nrw-lockdown-lockerungen-handel-sport-kultur-armin-laschet-christof-rasche-90218993.html.

Für ihre bewährte Korrekturhilfe als Blogartikel-Erstleserin danke ich Anja Müller (München).

Jens Spahn oder: Die Unfähigkeit, Fehler ehrlich einzugestehen

Dass im deutschen Corona-Herbst 2020 verhängnisvolle Fehlentscheidungen getroffen wurden, haben inzwischen einige Politiker offen eingeräumt. Nicht alle beherzigen aber die Grundregel, dass solche Eingeständnisse nur dann glaubwürdig sind, wenn sie die falschen Entscheidungen auch ehrlich und ungeschönt benennen. Wer dazu nicht fähig ist und in der Retrospektive die Umstände lieber schönt oder gar anderen einen Teil der Schuld zuschiebt, sollte besser schweigen.

Si tacuisses…

Nicht geschwiegen hat nun aber schon zum zweiten Mal Jens Spahn. Der Bundesgesundheitsminister hatte zunächst am 24. Januar 2021 in einem Interview der „Bild am Sonntag“ erklärt, dass es wichtig sei über „Fehler und Versäumnisse reden“ zu können – allerdings nur mit Einschränkungen, nämlich „ohne dass es unerbittlich wird. Ohne dass es nur noch darum geht, Schuld auf andere abzuladen.“ Sein Eingeständnis formulierte er dann aber in der Wir-Form und lud so verbal einfach einen Teil seiner Schuld bei uns allen ab:

„Wir hatten alle zusammen das trügerische Gefühl, dass wir das Virus gut im Griff hätten. Die Wucht, mit der Corona zurückkommen könnte, ahnten wir, wollten es aber in großer Mehrheit so nicht wahrhaben. […] Wir haben dem Virus zu viel Raum gelassen. Wir hätten schon im Oktober bei geringeren Infektionen härtere Maßnahmen ergreifen müssen.“[1]

Dass aber gar nicht alle zusammen als großes „Wir“ im Oktober 2020 in das Lockdown-Light-Horn gestoßen hatten, verschwieg Spahn.

Spahns Doppelfehler

Diese Woche sprach Spahn in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung nochmals über die Fehler im Herbst. Allerdings ging er geschickter vor. Eingangs verwendete er erneut das gesamtgesellschaftliche Schuldverschiebungs-„Wir“. Sodann überdramatisierte er die Situation und drehte noch ein wenig an der Ereignis-Chronologie zu seinen Gunsten herum:

„Wir alle haben doch gehofft, dass die zweite Welle an uns vorbeigeht. Das ist menschlich. Hätte man früher auf die zweite Welle reagieren müssen? Wahrscheinlich ja. […] In der Rückschau sagt sich das immer leichter. Aus der Perspektive von damals muss man ja gleichzeitig fragen: Um welchen Preis? Welche Folgen hätte ein früherer Lockdown in anderen gesellschaftlichen Bereichen gehabt? Wer hätte akzeptiert, wenn wir im September, bei niedrigen Infektionszahlen, harte Einschnitte gefordert hätten?“[2]

Trickreich, wer möchte Spahns rhetorischen Fragen schon widersprechen? Denn stimmt es nicht, dass im September 2020 kaum jemand einen harten Shutdown akzeptiert hätte? Die Wahrheit war nur, dass die Bundesregierung und die Länder es während der langsam wieder ansteigenden Inzidenzen im September bei bloßen Appellen beließen, anstatt wenigstens mit einem Teil-Lockdown gegen die schon absehbare zweite Welle gegenzusteuern. Maßnahmen begrenzter Kontakteinschränkungen hätten zwar keine Begeisterungsstürme ausgelöst, wären bei einem Gutteil der Bevölkerung aber durchaus auf Verständnis gestoßen.

Das wochenlange Zuschauen am Beginn der zweiten Corona-Welle war also der erste politische Fehler im Herbst, den Spahn hier verschweigt.[3]

Erst Ende Oktober kam es dann zum Bund-Länder-Beschluss des „Lockdown Light“. Diese Entscheidung war keineswegs unumstritten – mahnende Stimmen zweifelten an der Wirksamkeit derart begrenzter Einschränkungen der Kontakte. Aber doch gaben einige Experten der gewählten Light-Strategie eine Chance, als „Wellenbrecher“ wirken zu können.

Was nicht nur Spahn gerne verschweigt: Der schlimmste Fehler der politisch Verantwortlichen 2020

Den zweiten dicken Fehler machte die Bund-Länder-Runde am 25. November: Trotz mittlerweile erwiesener Wirkungslosigkeit wurde der Lockdown Light lediglich verlängert. Experten rieten Ende November überwiegend zur Verschärfung.[4] Wäre man diesem Rat gefolgt, hätte das die Dezemberwelle glimpflicher abgefangen und Zehntausenden Menschen das Leben gerettet. Denn erst im Laufe des Dezembers stieg die tägliche Zahl der Corona-Toten unerbittlich von unter 300 bis auf fast 1000 an. Bei einem deutschlandweit so stark grassierenden Corona-Virus mit Inzidenzwerten von zeitweise über 200 war es eben einfach nicht mehr möglich, die Risikogruppe der hilfsbedürftigen alten Menschen, die auf die Unterstützung durch andere im Alltag angewiesen sind und so ihre Außenkontakte nicht vollständig reduzieren können, noch ausreichend zu schützen.

Indem Spahn aber in dem SZ-Interview die Perspektive auf den Anfang der zweiten Welle verschob, konnte er den schwersten politischen Irrtum, den die Bundesregierung zusammen mit den Ländern zu verantworten hat, einfach verschweigen.

Die Unfähigkeit, aus den Fehlern des Herbstes 2020 zu lernen

Sicherlich ist Jens Spahn kein Einzelfall, wenn es um selbstgerechte Analysen und halbherzige oder halbwahre Fehlereingeständnisse geht – schlimmer noch trieb es bekanntlich im Dezember und Januar der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer mit seinen Fremdschuldzuweisungen für eigenes Versagen.[5] Jedoch sind solche Statements der Unbelehrbarkeit in der jetzigen Situation ein besonderes Ärgernis. Denn nur wenn man einen schonungslosen, wahrheitsgemäß Blick auf die eigenen Fehler zulässt, kann man aus ihnen etwas lernen. Halbwahrheiten verführen hingegen nur zu neuen Fehlschlüssen.

Gerade in der jetzigen Pandemiesituation wäre es dringend nötig, dass die Verantwortlichen in der Politik die richtigen Lehren aus den Versäumnissen des Jahres 2020 ziehen. Wir sollten angesichts einer sich aufbauenden neuen, von Corona-Mutationen beschleunigt angetriebenen Welle nun keineswegs uns mit einer begrenzten Eindämmung der Neuinfektionszahlen zufrieden geben. Die Situation ähnelt durchaus wieder der vom Frühherbst: Wir wissen an sich, dass eine Gefährdung bevorsteht, debattieren aber voreilig über neue Lockerungen statt über eine nachhaltige Absenkung der Infektionszahlen.

Doch nicht nur eine Analyse der Fehlentscheidungen während der im letzten Jahr angewandten Pandemie-Eindämmungspolitik ist jetzt gefordert, sondern auch ein Umdenken in der Bekämpfung von COVID-19. Wer den Pandemieverlauf in Deutschland im vergangenen Jahr kritisch Revue passieren lässt, wird zu dem Schluss kommen, dass die gewählte Strategie einer „Eindämmung des Virus“ nicht als Erfolg bezeichnet werden kann. Zwar wurde der Kollaps des Gesundheitssystems in Deutschland am Jahresende gerade noch vermieden. Aber die hohen Todeszahlen belegen, dass der Schutz der Risikogruppen, der schon in der ersten Welle die Achillesferse war, in der zweite Welle misslungen ist. Außerdem haben lange Teil-Lockdown-Zeiten das Land wirtschaftlich, finanziell und mental stark belastet, wobei die Lasten sehr ungleich verteilt waren.

Führende Wissenschaftler fordern deshalb schon seit November einen Strategiewechsel – weg von der bloßen Eindämmung, die in der Praxis zu Jojo-Effekten geführt hat, hin zu einer Strategie einer weitgehenden Eliminierung des Virus, bekannt geworden unter dem Twitter-Hashtag #NoCovid.[6]

Anmerkungen:

[1] https://www.bild.de/bild-plus/politik/2021/politik/spahn-unter-druck-wir-haben-dem-virus-zu-viel-raum-gelassen-75032808,view=conversionToLogin.bild.html;
ausführlicher dazu der letzte Corona-Beitrag in diesem Blog.

[2] “Hätte man früher auf die zweite Welle reagieren müssen? Wahrscheinlich ja”, in: SZ 14.2.2021, https://www.sueddeutsche.de/politik/jens-spahn-corona-grenzkontrollen-impfen-interview-1.5205856.

[3] Vgl. dazu den ersten Corona-Beitrag in diesem Blog.

[4] Vgl. den zweiten Corona-Beitrag in diesem Blog.

[5] Vgl. „Kretschmer: ‚Haben dieses Virus unterschätzt‘“, ZDFheute 2.12.2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-sachsen-kretschmer-100.html; „Ministerpräsident Kretschmer räumt Fehler in Corona-Politik ein“, RND/dpa 8.1.2021, https://www.rnd.de/politik/corona-in-sachsen-michael-kretschmer-raumt-fehler-in-umgang-mit-pandemie-ein-VSFYEBNZT755FV3G3C32AY52YA.html.

[6] Vgl. dazu den jüngsten europaweiten Aufruf von Wissenschaftlern, der am 15.2.2021 auch in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde: „Wie wir ohne Covid-19 leben können“, https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/no-covid-coronavirus-strategie-impfung-zonen-1.5206829?utm_source=Twitter&utm_medium=twitterbot&utm_campaign=1.5206829.