Basiert Maria Montessoris Denken „auf rassenanthropologischen Grundlagen“?

Erst die Aufdeckung der Missbrauchsskandale in der Odenwaldschule, jetzt Fragen zu rassistischen Wurzeln der Reformpädagogik: “Die Erkenntnis, dass Montessori am „perfekten Kind“ arbeitete (…) – und die „weiße Rasse“ dabei als die auch moralisch überlegene ansah – all das ist keineswegs eine neue Erkenntnis”, schreibt Anna Klöpper in der taz.[1]

Klöpper zitiert dabei die Salzburger Pädagogik-Professorin Sabine Seichter, Autorin des kürzlich erschienen Buchs “Der lange Schatten Maria Montessoris. Der Traum vom perfekten Kind“.[2] Im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung antwortet Seichter auf die Frage nach Rassismus bei Montessori:

“Was heißt rassistisch? Ich würde sagen, dass ihr Denken auf rassenanthropologischen Grundlagen fußt.”[3]

Und auf die Frage, ob sie selbst eines ihrer Kinder angesichts dieses Befundes auf eine Montessori-Einrichtung schicken würde, meinte Sabine Seichter:

„Das lässt sich schwer beantworten. Käme man auf die Idee, Montessoris Schriften eins zu eins in der Praxis anzuwenden – ich würde nicht wollen, dass mein Kind einem bestimmten Ideal entsprechen muss oder gesagt bekommt, dass es sich „normal“ oder „anormal“ entwickelt. Es kann aber sein, dass in einem sogenannten Montessori-Kinderhaus gerade deshalb gute Pädagogik gemacht wird, weil sie nichts mit Montessori zu tun hat. Meiner Analyse nach ist genau das vielleicht sogar wünschenswert.

Angesichts dieser neuen Schatten über der Reformpädagogik bleibt zu hoffen, dass diesmal eine offenere und ehrlichere Debatte darüber stattfindet als nach Aufdeckung der Missbrauchsskandale an der Odenwaldschule.[4] Nur widerwillig stellten sich vor einem Jahrzehnt seine Verfechter:innen den kritischen Fragen zum “pädagogischen Eros” und der “Nähe zum Kind”, obgleich es offensichtlich geworden war, dass solche reformpädagogische Konzepte Grenzüberschreitungen von Lehrkräften auf Schutzbefohlene bis hin zum schweren Missbrauch begünstigt hatten.

Ohne Zweifel geht es auch im Fall der “langen Schatten Maria Montessoris” durchaus auch um ganz substanzielle Defizite des auf Montessori zurückgehenden reformpädagogischen Ansatzes. Die dunklen Seiten sollten nun dringend aufgearbeitet werden – das muss eigentlich auch im Interesse der Montessori-Bewegung selbst liegen. Eilige Zurückweisungen angeblich „haltloser Vorwürfe“, wie sie jüngst der Düsseldorfer Reformpädagoge Heiner Barz in einem Gastbeitrag für das Bildungsmagazin “News4teachers” geäußert hat,[5] helfen hier sicherlich nicht weiter.

 

Aber auch die Mahnung des Mainzer Bildungsforschers Heiner Ullrich greift wohl zu kurz, wenn er im Interview mit der „Zeit“ zwar fordert, dass „alle, die mit Montessoris Ideen arbeiten, diese ernüchternden Befunde kennen“ sollten, doch zugleich pauschal Entwarnung für die Montessori-Praxis gibt:

„Für die Arbeit in den Einrichtungen selbst sehe ich keine unmittelbaren Folgen. Hier gilt: An ihren Früchten soll man sie erkennen!“[6]

Haben aber die Bildungsbeteiligten in Deutschland, möchte man Ullrich fragen, aktuell überhaupt ausreichende Fähigkeiten zur klaren Erkenntnis der pädagogischen Früchte? Angesichts einer Notsituation, in der das gesamte Bildungssystem in einer desolaten Lage ist und viele Eltern händeringend nach brauchbaren Alternativen zum staatlichen Normangebot suchen, werden gerade Montessorischulen wie auch den hinsichtlich ihrer pädagogischen Basis nicht weniger umstrittenen Waldorfschulen vielerorts aus purer Verzweiflung die Türen eingerannt.

Eine kritisch geläuterte Reformpädagogik wäre in der jetzigen Bildungskrise bitter nötig

Deutschland steht eine umfassende Neuausrichtung des Bildungsystems bevor – anders wird das Land nicht aus der gegenwärtigen tiefen Bildungskrise herausfinden, in die sich das Land durch jahrzehntelange Reformverweigerung hineinmanövriert hat. Für die notwendigen grundlegenden Veränderungen werden oft die reformpädagogischen Einrichtungen als Vorbild genannt. Gerade deswegen ist eine umfassende ehrliche (Selbst-)Kritik der Montessori-Pädagogik – wie übrigens auch der zuletzt in der Pandemie mit Schwurbelei wieder einmal ins Gerede gekommenen Waldorfpädagogik – jetzt dringend nötig. Cineastisch verbrämte Hagiographie im Stile des in Kürze in die Kinos kommenden neuen Maria-Montessori-Films ist da gerade das Letzte, was wir brauchen.

Insbesondere bei einer Blindstelle im Denken von Maria Montessori, dem Thema Inklusion, sind die Defizite in Deutschland eklatant. Die Oberflächlichkeit, mit der hier bislang immer noch gearbeitet wird, hat nicht zuletzt mit den zu wenig aufgearbeiteten Erblasten der Pädagogik hierzulande zu tun. Denn auch nach 1945 war die Erziehungslehre und -praxis jahrzehntelang weiterhin vom Gedanken der Segregation statt Inklusion geprägt gewesen – und ist es in Teilen sogar noch bis heute.

Belegangaben:

[1] Anna Klöpper, Richtige Pädagogik, falsche Ideen, in: taz 23.2.2024, https://taz.de/Eugenik-Diskussion-um-Maria-Montessori/!5991727/.

[2] Sabine Seichter, Der lange Schatten Maria Montessoris. Der Traum vom perfekten Kind, Weinheim: Beltz 2024.

[3] „.Anormale’ Kinder, glaubte sie, muss man separieren“, FAZ 25.2.2024, https://zeitung.faz.net/fas/leben/2024-02-25/71c75e4c894db40b24ad14a222a367a5/?GEPC=s1.

[4] Vgl. Christian Füller, Sündenfall: Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte, Köln: Du Mont 2011.

[5] Heiner Barz: „Größtenteils haltlose Vorwürfe“: Warum die Debatte um Maria Montessori wenig neue Erkenntnisse bietet – ein Gastbeitrag, in: News4teachers 19.2.2024, https://www.news4teachers.de/2024/02/groesstenteils-haltlose-vorwuerfe-warum-die-debatte-um-maria-montessori-wenig-neue-erkenntnisse-bietet-ein-gastbeitrag/.

[6] “Sie sprach vom Erlöserkind”, in: Die Zeit 28.2.2024, https://www.zeit.de/2024/10/maria-montessori-paedagogin-film-buch-biografie?wt_zmc=sm.int.zonaudev.twitter.ref.zeitde.redpost.link.sf&utm_content=zeitde_redpost+_link_sf&utm_source=twitter_zonaudev_int&utm_medium=sm&utm_referrer=twitter&utm_campaign=ref.

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