Jens Spahn oder: Die Unfähigkeit, Fehler ehrlich einzugestehen

Dass im deutschen Corona-Herbst 2020 verhängnisvolle Fehlentscheidungen getroffen wurden, haben inzwischen einige Politiker offen eingeräumt. Nicht alle beherzigen aber die Grundregel, dass solche Eingeständnisse nur dann glaubwürdig sind, wenn sie die falschen Entscheidungen auch ehrlich und ungeschönt benennen. Wer dazu nicht fähig ist und in der Retrospektive die Umstände lieber schönt oder gar anderen einen Teil der Schuld zuschiebt, sollte besser schweigen.

Si tacuisses…

Nicht geschwiegen hat nun aber schon zum zweiten Mal Jens Spahn. Der Bundesgesundheitsminister hatte zunächst am 24. Januar 2021 in einem Interview der „Bild am Sonntag“ erklärt, dass es wichtig sei über „Fehler und Versäumnisse reden“ zu können – allerdings nur mit Einschränkungen, nämlich „ohne dass es unerbittlich wird. Ohne dass es nur noch darum geht, Schuld auf andere abzuladen.“ Sein Eingeständnis formulierte er dann aber in der Wir-Form und lud so verbal einfach einen Teil seiner Schuld bei uns allen ab:

„Wir hatten alle zusammen das trügerische Gefühl, dass wir das Virus gut im Griff hätten. Die Wucht, mit der Corona zurückkommen könnte, ahnten wir, wollten es aber in großer Mehrheit so nicht wahrhaben. […] Wir haben dem Virus zu viel Raum gelassen. Wir hätten schon im Oktober bei geringeren Infektionen härtere Maßnahmen ergreifen müssen.“[1]

Dass aber gar nicht alle zusammen als großes „Wir“ im Oktober 2020 in das Lockdown-Light-Horn gestoßen hatten, verschwieg Spahn.

Spahns Doppelfehler

Diese Woche sprach Spahn in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung nochmals über die Fehler im Herbst. Allerdings ging er geschickter vor. Eingangs verwendete er erneut das gesamtgesellschaftliche Schuldverschiebungs-„Wir“. Sodann überdramatisierte er die Situation und drehte noch ein wenig an der Ereignis-Chronologie zu seinen Gunsten herum:

„Wir alle haben doch gehofft, dass die zweite Welle an uns vorbeigeht. Das ist menschlich. Hätte man früher auf die zweite Welle reagieren müssen? Wahrscheinlich ja. […] In der Rückschau sagt sich das immer leichter. Aus der Perspektive von damals muss man ja gleichzeitig fragen: Um welchen Preis? Welche Folgen hätte ein früherer Lockdown in anderen gesellschaftlichen Bereichen gehabt? Wer hätte akzeptiert, wenn wir im September, bei niedrigen Infektionszahlen, harte Einschnitte gefordert hätten?“[2]

Trickreich, wer möchte Spahns rhetorischen Fragen schon widersprechen? Denn stimmt es nicht, dass im September 2020 kaum jemand einen harten Shutdown akzeptiert hätte? Die Wahrheit war nur, dass die Bundesregierung und die Länder es während der langsam wieder ansteigenden Inzidenzen im September bei bloßen Appellen beließen, anstatt wenigstens mit einem Teil-Lockdown gegen die schon absehbare zweite Welle gegenzusteuern. Maßnahmen begrenzter Kontakteinschränkungen hätten zwar keine Begeisterungsstürme ausgelöst, wären bei einem Gutteil der Bevölkerung aber durchaus auf Verständnis gestoßen.

Das wochenlange Zuschauen am Beginn der zweiten Corona-Welle war also der erste politische Fehler im Herbst, den Spahn hier verschweigt.[3]

Erst Ende Oktober kam es dann zum Bund-Länder-Beschluss des „Lockdown Light“. Diese Entscheidung war keineswegs unumstritten – mahnende Stimmen zweifelten an der Wirksamkeit derart begrenzter Einschränkungen der Kontakte. Aber doch gaben einige Experten der gewählten Light-Strategie eine Chance, als „Wellenbrecher“ wirken zu können.

Was nicht nur Spahn gerne verschweigt: Der schlimmste Fehler der politisch Verantwortlichen 2020

Den zweiten dicken Fehler machte die Bund-Länder-Runde am 25. November: Trotz mittlerweile erwiesener Wirkungslosigkeit wurde der Lockdown Light lediglich verlängert. Experten rieten Ende November überwiegend zur Verschärfung.[4] Wäre man diesem Rat gefolgt, hätte das die Dezemberwelle glimpflicher abgefangen und Zehntausenden Menschen das Leben gerettet. Denn erst im Laufe des Dezembers stieg die tägliche Zahl der Corona-Toten unerbittlich von unter 300 bis auf fast 1000 an. Bei einem deutschlandweit so stark grassierenden Corona-Virus mit Inzidenzwerten von zeitweise über 200 war es eben einfach nicht mehr möglich, die Risikogruppe der hilfsbedürftigen alten Menschen, die auf die Unterstützung durch andere im Alltag angewiesen sind und so ihre Außenkontakte nicht vollständig reduzieren können, noch ausreichend zu schützen.

Indem Spahn aber in dem SZ-Interview die Perspektive auf den Anfang der zweiten Welle verschob, konnte er den schwersten politischen Irrtum, den die Bundesregierung zusammen mit den Ländern zu verantworten hat, einfach verschweigen.

Die Unfähigkeit, aus den Fehlern des Herbstes 2020 zu lernen

Sicherlich ist Jens Spahn kein Einzelfall, wenn es um selbstgerechte Analysen und halbherzige oder halbwahre Fehlereingeständnisse geht – schlimmer noch trieb es bekanntlich im Dezember und Januar der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer mit seinen Fremdschuldzuweisungen für eigenes Versagen.[5] Jedoch sind solche Statements der Unbelehrbarkeit in der jetzigen Situation ein besonderes Ärgernis. Denn nur wenn man einen schonungslosen, wahrheitsgemäß Blick auf die eigenen Fehler zulässt, kann man aus ihnen etwas lernen. Halbwahrheiten verführen hingegen nur zu neuen Fehlschlüssen.

Gerade in der jetzigen Pandemiesituation wäre es dringend nötig, dass die Verantwortlichen in der Politik die richtigen Lehren aus den Versäumnissen des Jahres 2020 ziehen. Wir sollten angesichts einer sich aufbauenden neuen, von Corona-Mutationen beschleunigt angetriebenen Welle nun keineswegs uns mit einer begrenzten Eindämmung der Neuinfektionszahlen zufrieden geben. Die Situation ähnelt durchaus wieder der vom Frühherbst: Wir wissen an sich, dass eine Gefährdung bevorsteht, debattieren aber voreilig über neue Lockerungen statt über eine nachhaltige Absenkung der Infektionszahlen.

Doch nicht nur eine Analyse der Fehlentscheidungen während der im letzten Jahr angewandten Pandemie-Eindämmungspolitik ist jetzt gefordert, sondern auch ein Umdenken in der Bekämpfung von COVID-19. Wer den Pandemieverlauf in Deutschland im vergangenen Jahr kritisch Revue passieren lässt, wird zu dem Schluss kommen, dass die gewählte Strategie einer „Eindämmung des Virus“ nicht als Erfolg bezeichnet werden kann. Zwar wurde der Kollaps des Gesundheitssystems in Deutschland am Jahresende gerade noch vermieden. Aber die hohen Todeszahlen belegen, dass der Schutz der Risikogruppen, der schon in der ersten Welle die Achillesferse war, in der zweite Welle misslungen ist. Außerdem haben lange Teil-Lockdown-Zeiten das Land wirtschaftlich, finanziell und mental stark belastet, wobei die Lasten sehr ungleich verteilt waren.

Führende Wissenschaftler fordern deshalb schon seit November einen Strategiewechsel – weg von der bloßen Eindämmung, die in der Praxis zu Jojo-Effekten geführt hat, hin zu einer Strategie einer weitgehenden Eliminierung des Virus, bekannt geworden unter dem Twitter-Hashtag #NoCovid.[6]

Anmerkungen:

[1] https://www.bild.de/bild-plus/politik/2021/politik/spahn-unter-druck-wir-haben-dem-virus-zu-viel-raum-gelassen-75032808,view=conversionToLogin.bild.html;
ausführlicher dazu der letzte Corona-Beitrag in diesem Blog.

[2] “Hätte man früher auf die zweite Welle reagieren müssen? Wahrscheinlich ja”, in: SZ 14.2.2021, https://www.sueddeutsche.de/politik/jens-spahn-corona-grenzkontrollen-impfen-interview-1.5205856.

[3] Vgl. dazu den ersten Corona-Beitrag in diesem Blog.

[4] Vgl. den zweiten Corona-Beitrag in diesem Blog.

[5] Vgl. „Kretschmer: ‚Haben dieses Virus unterschätzt‘“, ZDFheute 2.12.2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-sachsen-kretschmer-100.html; „Ministerpräsident Kretschmer räumt Fehler in Corona-Politik ein“, RND/dpa 8.1.2021, https://www.rnd.de/politik/corona-in-sachsen-michael-kretschmer-raumt-fehler-in-umgang-mit-pandemie-ein-VSFYEBNZT755FV3G3C32AY52YA.html.

[6] Vgl. dazu den jüngsten europaweiten Aufruf von Wissenschaftlern, der am 15.2.2021 auch in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde: „Wie wir ohne Covid-19 leben können“, https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/no-covid-coronavirus-strategie-impfung-zonen-1.5206829?utm_source=Twitter&utm_medium=twitterbot&utm_campaign=1.5206829.

“So viele, die fehlen” – die schweren Folgen des Lockdown light

Über 50.000 Coronatote haben wir inzwischen in Deutschland zu beklagen. Mitschuld daran war die verhängnisvolle Pandemiestrategie zwischen September und Mitte Dezember, für die das Oxymoron “Lockdown light” steht. Erst sehr spät, kurz vor Weihnachten, kam dann endlich die überfällige Verschärfung des Lockdowns. An den Folgen der Versäumnisse dieses deutschen Coronaherbstes haben wir im neuen Jahr immer noch zu tragen. Denn es wird wohl noch einige Wochen dauern, bis nach einer Reduzierung der Neuinfektionen auch die tägliche Zahl der an COVID-19 Verstorbenen deutlich zurückgeht.

Wenn das endlich passiert ist, steht dann wohl bald wieder die Frage unausgesprochen im Raum, wie viele Coronatote Deutschland täglich verkraften zu können glaubt. Über 1000 zum Glück nicht, und auch 500 scheinen den meisten wohl zu viel. Aber wäre es, falls die Inzidenzzahl „nur“ bei etwas über 50 liegen sollte, doch noch hinnehmbar, wenn täglich 200 Menschen erfolglos gegen ihre Atemnot auf der Intensivstation ankämpfen?

#ZeroCovid und #NoCovid lauten die Hashtags der eigentlich humanen Antworten auf das deutsche Coronadesaster im letzten Quartal des Jahres 2020. Diese Forderungen klingen radikal und bedürften einer breiteren gesellschaftlichen Diskussion, aber sie sind keineswegs „massiv unethisch“, wie ausgerechnet ein Mitglied des bayerischen Ethikrates kundtat:[1] Der Ökonomiephilosoph Christoph Lütge hat an der Technischen Universität München den Peter-Löscher-Stiftungslehrstuhl inne, der auf den namensgebenden ehemaligen Siemens-Vorstandsvorsitzenden als Privatmäzen zurückgeht. Lütge ist dazu noch Direktor des von Facebook gesponsorten „TUM Institute for Ethics in Artificial Intelligence“. Vom Bayerischen Rundfunk nach Gründen für sein harsches Urteil über #ZeroCovid gefragt, gab Lütge seine Version des im April durch die Presse gegeisterten Boris-Palmer-Frühstücksfernseh-Ethos[2] zum Besten:[3]

„Das Durchschnittsalter der Corona-Toten liegt bei etwa 84 Jahren und da stirbt man an Corona oder auch an etwas anderem. So ist es nun einmal. Menschen sterben.“

Wenn jetzt also ein sozialmedial-professoraler Experte bereits wieder munter Herzlosigkeiten zusammen mit Unwahrheiten über „große Reserven“ bei den Krankenhauskapazitäten verbreitet,[4] dann ist wohl eines gewiss: Schon bald werden wir uns in neu anschwellenden “Lockerungsdebattenorgien” ergehen, anstatt die Epidemie endlich wirkungsvoll in den Griff zu bekommen. Und da ja bislang nur schleppend geimpft wird, kann so bei den wohl irgendwo zwischen 50 und 100 demnächst stagnierenden Inzidenzwerten das tödliche Corona-Jojo ab Februar oder März wieder weitergehen. Nur wird es diesmal vermutlich beschleunigt durch gefährlichere Virenmutationen wie die in Großbritannien wütende B-117, die auch unser Gesundheitssystem zum Kollaps bringen dürften.

Lernen in der Pandemie: Wird Michael Kretschmer aus Schaden klug?

Bereits in diesem debattierorgiastischen-selbstvergessenen Sinne fabulierte gestern ausgerechnet der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, in dessen Bundesland die Inzidenz gerade einmal unter 200 gefallen ist, von einem möglichen „Stufenplan für Lockerungen“ in den nächsten Wochen.[5] Es war übrigens derselbe Politiker, der noch im Oktober vor Corona-„Hysterie“ gewarnt hatte, um dann angesichts explodierender Infektionszahlen Anfang Dezember kleinlaut zugeben zu müssen, dass man im Nachhinein betrachtet manche Maßnahmen besser früher hätte ergreifen sollen.[6] „Wir haben dieses Virus unterschätzt – alle miteinander“, erklärte er im ZDF-Morgenmagazin.[7] Die Schuld für diesen Fehler suchte er allerdings weniger bei sich selbst als bei anderen: Er hätte sich gewünscht, dass er „früher gewarnt worden wäre“, klagte er in einem späteren Interview.[8] Ministerpräsidenten müssen der Presse Rede und Antwort stehen – aber bleibt ihnen eigentlich keine Zeit, auch einmal selbst die Zeitung zu lesen?

Lässiger und souveräner als Kretschmer kommt gewöhnlich sein bayerischer Amtskollege Markus Söder daher. Gemäß seiner pandemischen Leitmaxime der „Vorsicht und Umsicht“ scheint er bislang überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Und doch trug auch Söder bei aller merkelnahen Besorgtheitsrhetorik die wachsweichen Bund-Länder-Beschlüsse des Lockdown light mit – und das, obwohl Bayern nicht zuletzt aufgrund seiner prekären Grenzlage zu den am härtesten von Corona getroffenen Bundesländern gehört: Fast 388.000 COVID-19-Infektionen zählte die Johns-Hopkins-Universität im Freistaat bislang, denen mehr als 9500 Menschen zum Opfer fielen.[9]

Allein in der bayerischen Landeshauptstadt München sind inzwischen mehr als 700 Menschen an Corona gestorben. Die Süddeutsche Zeitung erinnert in ihrer gestrigen Ausgabe nun an die Einzelschicksale hinter der hohen Todeszahl.[10] Auch ruft sie Menschen, die einen Angehörigen aus München wegen COVID-19 verloren haben und an ihn erinnern möchten, dazu auf, sich bei der Redaktion zu melden (muenchen-online@sueddeutsche.de oder 089/2183-9977). Wie die Zeitung erläutert, ist ihr Gedenkprojekt „inspiriert von Beiträgen in der New York Times (‚Those We’ve Lost‘), dem Guardian (‚Lost to the virus‘) und dem Tagesspiegel (‚Den Toten der Pandemie‘).“

Würdiges öffentliches Gedenken der Coronatoten – nur wie?

Es ist erfreulich, dass wenigstens einige große Tageszeitungen das schmerzliche Thema des Totengedenkens aufgreifen und die Opfer der Pandemie so sichtbarer machen. Aber wann werden wir in Deutschland auch einmal alle gemeinsam in würdiger Form der COVID-19-Toten öffentlich gedenken – anstatt darüber zu streiten, ob diese Menschen nun „an oder mit Corona“ gestorben seien und oder ob ihr Tod gar dank einer schwächeren Influenzawelle eigentlich nicht ins Gewicht falle?

Der vorgestern erfolgte Aufruf des Bundespräsidenten, zum Gedenken an die bislang 50.000 Coronatoten eine Kerze ins Fenster zu stellen, war eine gut gemeinte Geste.[11] Aber ein würdiges öffentliches Gedenken kann die „Aktion #Lichtfenster“ nicht ersetzen. Das hätte angesichts des Leides, dass so viele Menschen zusammen mit ihren Angehörigen erfahren mussten, anders auszusehen. Ehrlicherweise müsste es auch von dem Eingeständnis der politisch Verantwortlichen begleitet sein, dass die hohen Todeszahlen im deutschen Coronaherbst auch mit einer von Pandemieverharmlosern zeitweise in die Irre geleiteten öffentlichen Debatte und mit vermeidbaren politischen Fehlentscheidungen zu tun hatten.

Denn neben Trauer ist ja auch Bitterkeit über diese Versäumnisse berechtigt, besonders wenn Menschen in ihrem persönlichen Umfeld von Leid und Verlust betroffen sind. Nichtdestotrotz warnt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn heute, nur zwei Tage nach Steinmeiers #Lichtfenster-Gedenkaufruf, davor, „dass 2021 nicht das Jahr der Schuldzuweisung“ werden dürfe. „Über Fehler und Versäumnisse reden ist wichtig. Aber ohne dass es unerbittlich wird. Ohne dass es nur noch darum geht, Schuld auf andere abzuladen“, mahnt Spahn.[12]

Pluralis Majestatis? Bekenntnisse des Ministers Jens Spahn

Leider lassen die weiteren Ausführungen des Ministers nicht erkennen, dass ihm klar wäre, wie wichtig Ehrlichkeit und die klare Benennung der persönlichen Verantwortlichkeit beim glaubwürdigen „Reden über Fehler und Versäumnisse“ sind. So gestand etwa Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow Anfang des Monats in einer Talkshow seinen Irrtum bei den Bund-Länder-Verhandlungen im Herbst offen ein – nicht er, sondern die Kanzlerin habe mit ihren Warnungen recht gehabt: „Ich habe mich von Hoffnungen leiten lassen, die sich jetzt als bitterer Fehler zeigen“, gab Ramelow zu.[13] Anders klingt jedoch heute Spahn, der, wie schon Kretschmer bei seinem Dezember-Statement, den Plural der ersten Person für seine Eingeständnisse wählt:

„Wir hatten alle zusammen das trügerische Gefühl, dass wir das Virus gut im Griff hätten. Die Wucht, mit der Corona zurückkommen könnte, ahnten wir, wollten es aber in großer Mehrheit so nicht wahrhaben. […] Wir haben dem Virus zu viel Raum gelassen. Wir hätten schon im Oktober bei geringeren Infektionen härtere Maßnahmen ergreifen müssen.“

Wir? Nicht alle haben mit Spahn im Herbst in das Lockdown-Light-Horn gestoßen. Zum Beispiel finden sich auch in diesem kleinen Blog zwei Beiträge im Oktober und November, in denen vor den Folgen einer laxen Pandemiestrategie gewarnt wurde – unter Verweis auf zahlreiche andere, laute und gewichtige Stimmen, deren Kritik in den Medien durchaus breit rezipiert wurde. Umfragen belegen dazu, dass rund ein Viertel der Bevölkerung die vom Bund und den Ländern vereinbarten Maßnahmen für nicht weitreichend genug hielt.[14] Die Politik hatte sich also im Herbst für einen Weg entschieden, der im laufenden Diskurs mehrheitsfähig schien, wenngleich vor ihm laut und vernehmbar gewarnt wurde.

Solange aber die Verantwortlichen den Mut zur schonungslosen Ehrlichkeit bei ihren Fehlereingeständnissen nicht haben, ist es vielleicht besser, auf einen nationalen Trauerakt für die Coronatoten vorerst zu verzichten und es bei wortlosen Gesten des Bedauerns wie den #Lichtfenstern zu belassen. Der stille Tod der über 50.000 COVID-19-Opfer, über den bislang so wenig Worte verloren worden sind, während über Einschränkungen durch Schutzmaßnahmen tagtäglich geklagt wird, ist zwar nicht nur traurig, sondern eigentlich sogar beschämend. Noch beschämender wäre es allerdings, wenn die Toten und ihre Angehörigen pauschal für ihr erlittenes Schicksal von selbstgerechten Rednern bei einer Gedenkfeier mitverantwortlich gemacht würden.

Anmerkungen:

[1] Christoph Lütge via Twitter am 17.1.2021, https://twitter.com/chluetge/status/1350863746957275136.

[2] Zu umstrittener Palmers Äußerungen vom vergangenen Frühjahr vgl. Der Tagesspiegel, 28.4.2020, „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, https://www.tagesspiegel.de/politik/boris-palmer-provoziert-in-coronavirus-krise-wir-retten-moeglicherweise-menschen-die-in-einem-halben-jahr-sowieso-tot-waeren/25782926.html. Das vollständige siebenminütige Interview mit Palmer, das im SAT 1-Frühstücksfernsehens am 28.4.2020 stattfand, findet sich unter folgendem Link: https://www.sat1.de/tv/fruehstuecksfernsehen/video/202082-oberbuergermeister-boris-palmer-spricht-ueber-die-deutsche-wirtschaft-clip.

[3] Mitglied des Bayerischen Ethikrates kritisiert #ZeroCovid, BR24 21.1.2021, https://www.br.de/nachrichten/bayern/mitglied-des-bayerischen-ethikrates-kritisiert-zerocovid,SMfAiNI.

[4] In seinem dem Sender am 21.1.2021 dem BR gegebenen Interview (abrufbar unter dem in vorigen Fußnote angegebenen Link) leugnete Lütge eine Überlastung der Krankenhäuser durch die aktuelle Corona-Krise und sprach – im Widerspruch zu den Verlautbarungen von namhaften Krankenhaus- und Intensivmedizinern – von einer „für diese Jahreszeit absolut normalen Belegung“ bei noch „großen Reserven“. Ferner musste BR24 einen am 21.1.2021 veröffentlichten Artikel über Lütges Äußerungen zu #ZeroCovid mit folgendem Warnhinweis versehen: „Eine frühere Version des Artikels enthielt eine nicht belegbare Aussage von Christoph Lütge zu Übersterblichkeit aufgrund von Lockdown-Maßnahmen während der Corona-Pandemie. Wir haben diese daher entfernt.“ https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/kritik-an-initiative-zerocovid-handelt-massiv-unethisch,SMXQCUX.

[5] Kommen die Lockerungen hier früher als anderswo? In: Lausitzer Rundschau 23.1.21, https://www.lr-online.de/nachrichten/sachsen/corona-in-sachsen-kommen-die-lockerungen-hier-frueher-als-anderswo_-54633750.html.

[6] Kretschmer im ZDF zu Lockdown – “Verdummung im Land entgegentreten”, ZDFheute 9.12.2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-interview-michael-kretschmer-heute-journal-100.html.

[7] Kretschmer: “Haben dieses Virus unterschätzt”, ZDFheute 2.12.2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-sachsen-kretschmer-100.html.

[8] Ministerpräsident Kretschmer räumt Fehler in Corona-Politik ein, RND/dpa 8.1.2021, https://www.rnd.de/politik/corona-in-sachsen-michael-kretschmer-raumt-fehler-in-umgang-mit-pandemie-ein-VSFYEBNZT755FV3G3C32AY52YA.html.

[9] Die Zahlen sind entnommen aus dem Coronavirus-Monitor der Berliner Morgenpost (Stand 23.1.2021, 20 Uhr): https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit. Als Datenquelle werden hier angegeben: Johns Hopkins University CSSE (internationale Daten von WHO, CDC (USA), ECDC (Europa), NHC, DXY (China), Risklayer/Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Meldungen der französischen Ämter und der deutschen Behörden (RKI sowie Landes- und Kreisgesundheitsbehörden).

[10] So viele, die fehlen, in: Süddeutsche Zeitung 23.1.2021, https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/muenchen/coronatote-in-muenchen-die-menschen-hinter-den-zahlen-e487702/.

[11] Bundespräsident Steinmeier ruft auf zur Aktion #lichtfenster und lädt ein zum staatlichen Gedenken an die Corona-Toten in Deutschland, Pressemitteilung 22.1.2021, https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/01/210122-Aufruf-Lichtfenster.html.

[12] Bund erwirbt 200.000 Dosen eines Antikörper-Medikaments, in: Deutsche Ärztezeitung 24.1.2021, https://www.aerztezeitung.de/Wirtschaft/Bund-erwirbt-200000-Dosen-eines-Antikoerper-Medikaments-416489.html. Die Äußerung fielen in einem Interview mit der Bild am Sonntag vom selben Tag (https://www.bild.de/bild-plus/politik/2021/politik/spahn-unter-druck-wir-haben-dem-virus-zu-viel-raum-gelassen-75032808,view=conversionToLogin.bild.html).

[13] Forderung nach noch härterem Lockdown, insuedthueringen.de 8.1.2021, https://www.insuedthueringen.de/inhalt.ramelow-raeumt-fehler-ein-forderung-nach-noch-haerterem-lockdown.a1d48333-018e-4b16-b39c-3e05ea779e24.html. Für einen Interviewausschnitt aus der Talkshow “Markus Lanz” mit Ramelows zitierten Äußerungen siehe https://www.zdf.de/nachrichten/video/politik-ramelow-corona-management-lanz-100.html. Ähnlich selbstkritisch hatte sich Ramelow bereits in einem Interview mit der FAZ geäußert, dass am Vortrag abgedruckt worden war: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bodo-ramelow-gesteht-fehler-im-kampf-gegen-corona-17135034.html.

[14] ZDF-Politbarometer 13.11.2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/politbarometer-rueckhalt-fuer-geltende-massnahmen-100.html.