#NoCovid: Eine australische Corona-Strategie findet ihren Weg nach Deutschland

Wie müde sind wir alle von diesem Winter-Lockdown! Und doch befindet sich Deutschland trotz momentaner Besserung der Coronalage schon wieder am Beginn einer dritten, diesmal von neuen Virusmutationen getriebenen COVID-19-Welle, die es abzufangen gilt. Statt ersehnter Lockerungen stehen uns also weitere Wochen der landesweiten Kontaktbeschränkungen bevor. Doch geht es auch anders? NoCovid heißt eine alternative Strategie, die auf regional begrenzte Corona-befreite „Grüne Zonen“ setzt. Mit ihr soll auf der Ebene der Städte und Landkreise ein nachhaltiger Weg aus dem Lockdown-Jojo gefunden werden, das wir nun seit Monaten erleben. Aber welche Köpfe stecken eigentlich hinter diesem neuen Masterplan? Was bedeutet er konkret? Und kann NoCovid überhaupt im dicht bevölkerten Mitteleuropa funktionieren?

Deutschland Ende Februar 2021: Wenngleich die Vorfrühlingssonne seit Tagen das Land verwöhnt, bleiben die Aussichten für die kommenden Monate trübe. Ein Jahr hat die COVID-19-Pandemie das Land schon im Griff, und aufgrund des Schneckentempos bei der Ende Dezember begonnenen Corona-Impfkampagne wird sich daran 2021 wohl nur sehr langsam etwas ändern.

Harter Shutdown, Sommerfreiheiten und verpatzter Lockdown 2 – ein wechselvolles Jahr der Corona-Bekämpfung im Rückblick

Dabei war doch die erste Corona-Welle im vergangenen Frühjahr mit einem harten Shutdown kurz und erfolgreich bekämpft worden. Und darauf folgte ein halbwegs erträglicher Sommer mit einer relativ geringen Virusverbreitung – unter Maßgabe von Abstands- und Hygieneregeln konnte sich das öffentliche Leben so zwischen Juni und September zu einem Gutteil wieder normalisieren. Doch als im Herbst, wie von Epidemiologen vorhergesagt, die Zahl der Neuinfektionen wieder stieg, missriet die Bekämpfung der zweiten Corona-Welle. Erst warteten die politisch Verantwortlichen zu lange damit, Kontakteinschränkungen zu verhängen. Dann wurden – was sich im Nachhinein als der verhängnisvollste Fehler des Jahres herausstelle – zu spät die nur unzureichend wirksamen Maßnahmen des „Lockdown light“ zum „Lockdown 2“ verschärft. So stieg die Infektionsrate im Dezember bis auf eine landesweite Inzidenz von beinahe 200. Fast 60.000 Menschen fielen der in dieser Schwere eigentlich für Deutschland vermeidbar gewesenen zweiten Corona-Welle zum Opfer.

Nach mehr als zwei Monaten im „Lockdown 2“ hat sich die Verbreitung von COVID-19 inzwischen zum Glück wieder verringert. Mit durchschnittlich knapp 8000 Neuinfektionen pro Tag und einem Inzidenzwert von 67 liegen die Zahlen aber noch deutlich über der angestrebten Marke:[1] Die Regierenden in Bund und Ländern hatten zunächst als Zielwert eine Inzidenz von 50 erkoren, dann aber auf der vorletzten Ministerpräsidentenkonferenz auf 35 abgesenkt. Eine Zahl von wöchentlich maximal 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner ist als Schwellenwert auch in dem 2020 geänderten Bundesinfektionsschutzgesetz enthalten, wobei diese Festsetzung nicht unumstritten ist. Denn von Experten wird bezweifelt, dass eine vollständige Rückverfolgung von Infektionsketten bei einer so hohen Inzidenz möglich ist.[2]

Verfrühte Lockerungen trotz erhöhter Inzidenzen: Lockdownmüdigkeit und Nervenflattern

Die Verschärfung des Ziel-Inzidenzwerts auf 35 hat mit der geänderten Gefahrenlage zu tun, die sich aus der Verbreitung von neuen, aus Großbritannien und Südafrika direkt oder über Nachbarländer nach Deutschland eingeschleppten Virusmutationen ergibt. Denn der Ansteckungsgrad der fraglichen Mutationen B.1.1.7 und B.1.351 wird im Vergleich zum bislang noch in Deutschland vorherrschenden Wildtyp von SARS-CoV-2 als höher eingestuft. Nachdem der rückläufige Trend bei den täglichen Neuinfektionszahlen zum Stillstand gekommen ist und sich sogar wieder ins Gegenteil zu verkehren beginnt, wächst die Sorge vor einer neuen, nun vor allem von der britischen Mutation getriebenen Corona-Welle.

Insofern muss es erstaunen, dass ungeachtet dessen Forderungen nach Lockerungen des „Lockdowns 2“ die Debatten weiter bestimmen. Erste Schritte waren bereits auf der letzten Ministerpräsidentenkonferenz verabredet worden: Zunächst wurden in fast allen Bundesländern die Grundschulen und Kitas vollständig oder mit verkleinerten Gruppen im Wechselbetrieb geöffnet. Morgen, am 1. März, werden dann bundesweit Friseursalons wieder öffnen. Vor der nächsten, eigentlich für die Koordinierung weiterer Schritte vorgesehenen Bund-Länder-Runde in der kommenden Woche preschen nun einige Ministerpräsident:innen mit weiteren Lockerungen vor: Unterricht für Abschlussklassen, Öffnung von Kosmetik- und Nagelstudios, von Blumenläden, Garten- oder Baumärkte, von Zoos oder Museen sowie die Zulassung von Freischankflächen – vieles ist im Gespräch, anderes regional schon in die Wege geleitet.[3] Irritierend daran ist, dass das reale Infektionsgeschehen vor Ort nicht immer das entscheidende Kriterium zu sein scheint, sondern eher das Nervenflattern der Länderchefs. So öffneten ausgerechnet zwei Bundesländer mit überdurchschnittlich hohen Inzidenzwerten mit als Erste ihre Grundschulen für den Vollbetrieb: Sachsen (Inzidenz: 90) und Thüringen, mit 129 republikweiter Inzidenz-Spitzenreiter.

Vorbild Österreich? Pandemiepopulismus nach Art des Sebastian Kurz

Freilich ist die in der Bevölkerung wie unter den Regierenden um sich greifende Lockdownmüdigkeit nach den monatelangen Kontakteinschränkungen verständlich. Fatal wäre es jedoch, wenn das derzeitige Motivationstief dazu führen würde, dem in die dritte Welle startenden Virus freien Lauf zu lassen. Rechte Populisten – Trump und Bolsonaro – waren die ersten, die sich letztes Jahr diese Politstrategie zu Eigen gemacht haben. „Mit dem Virus leben“ wurde gerne als Überschrift dafür gewählt, wenngleich es ehrlicherweise „Mit dem Virus leben und sterben“ hätte heißen müssen. Verantwortungsloser Pandemiepopulismus, der mit dem Leben der Risikogruppen Roulette spielt, findet sich aber auch bei Rechtsliberalen oder Sozialdemokraten, wie die Beispiele der Niederlande und Schwedens gezeigt haben. Aktuell wandelt ein junger Shootingstar der konservativen Mitte, Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, auf diesem bequem erscheinenden Pfad: Dass bei Inzidenzen von über 100 schon Anfang Februar wieder Schluss mit dem Winter-Lockdown der Alpenrepublik war, begründete Kurz mit dem wachsenden Unmut in der Bevölkerung: “Egal, ob in Österreich oder in Deutschland oder anderswo in Europa: Jedem reicht’s schon langsam.” Und den inzwischen gemessenen Anstieg der Neuinfektionen (aktuelle Inzidenz: 156) versucht Kurz folgendermaßen schönzureden: Immerhin sei die Zunahme doch „langsamer als zum Beispiel in Irland oder Portugal, wo die Zahlen ja explosionsartig gestiegen sind.“[4]

Derartigen Pandemiepopulismus wird man Angela Merkel nicht vorwerfen können. Die Kanzlerin möchte möglichst keine weiteren Lockerungen zulassen, bis eine ausreichende Eindämmung des Infektionsgeschehens erreicht ist. Fraglich ist nur, ob sich dieser Kurs, der im Januar unter dem Eindruck von täglich tausend Coronatoten Konsens war, immer noch durchsetzen lässt. Denn zweifellos kann wirksamer Seuchenschutz in einer Demokratie nur schwer gegen den erklärten Willen eines Großteils der Bevölkerung durchgedrückt werden.

Vorbild Australien: Ist die Zeit reif für einen Strategiewechsel in Deutschland?

Ein Ausweg aus dieser schwierigen Lage könnte ein mutiger Schritt sein, den Australien bereits im vergangenen Sommer gegangen ist: Der Strategiewechsel von der bloßen Eindämmung der massenhaften Verbreitung von SARS-CoV-2 zu seiner weitgehenden Eliminierung.[5] Es mag zunächst widersprüchlich klingen, ausgerechnet in der jetzigen Lage diese unter dem Twitter-Hashtag #NoCovid bekannt gewordene Strategie ins Spiel zu bringen. Doch eröffnet sie aufgrund ihrer Fokussierung auf Fortschritte in regionalen oder lokalen Einheiten eine Perspektive für eine nachhaltige Normalisierung des öffentlichen Lebens und damit für ein Ende des ermüdenden Lockdown-Jojos.

Während in Australien bereits bald nach der ersten Welle dieser Strategiewechsel vollzogen wurde, wird eine derartige Vorgehensweise in Europa erst seit Ende des vergangenen Jahres vermehrt diskutiert. Zwar war schon in den Monaten davor immer wieder über die Erfolge in der Pandemiebekämpfung berichtet worden, die Länder des Pazifikraums vorzuweisen haben. Zumeist richtete sich die Perspektive aber auf Südostasien und es überwog dabei der Tenor, dass Rezepte aus Staaten wie China, Taiwan oder Korea auf die Gegebenheiten in Europa schwer übertragbar seien.

Der alte Kontinent entdeckt pandemisch den Pazifik neu: der Aufruf im „Lancet“ vom 18.12.2020

Am 18. Dezember lancierten dann aber führende europäische Corona-Experten einen Aufruf, in dem sie unter dem Eindruck des Europa schwer beutelnden Corona-Winters einen radikalen Strategiewechsel bei der Bekämpfung der Pandemie nach Vorbild der Länder im Pazifikraum forderten. Von einer zwanzigköpfigen Autorengruppe, zu der die Physikerin Viola Priesemann, die Virologin Melanie Brinkmann und der am ifo-Institut forschende Makroökonom Andreas Peichl gehörten, wurde hierzu in der Medizinzeitschrift „The Lancet“ ein Papier unter der Überschrift „Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections“ verfasst, das über 300 Wissenschaftler:innen unterstützten. Ihren Namen unter den Aufruf setzten unter anderen der Charité-Virologe Christian Drosten, RKI-Präsident Lothar Wieler, der Soziologe Armin Nassehi, der Leiter des Ifo-Instituts Clemens Fuest, der System-Immunologe Michael Meyer-Hermann und der Medizinphysiker Matthias Schneider.[6] Gefordert wurde in dem Text eine nachhaltige Reduzierung der COVID-19-Fallzahlen in Europa. Aufgrund der Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 reiche es nicht aus, sich vorrangig auf die Belastungsgrenzen der Gesundheitssysteme zu fokussieren. Vielmehr müsse zur Rückgewinnung der Kontrolle über die Virusverbreitung ein niedriger Grenzwert im Bereich einer Wocheninzidenz von nur zehn Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner angestrebt werden.

Die Grundidee dieses Konzepts stammte dabei aus einem Lancet-Paper, das fünf Wochen zuvor unter Mitwirkung von Viola Priesemann erschienen war.[7] Darin wurde anhand von Großbritannien, das gerade von der zweiten COVID-19-Welle heimgesucht wurde, diskutiert, welche Bausteine für eine nachhaltige Pandemie-Strategie nötig sein, mithilfe derer dauerhaft die Kontrolle über das Infektionsgeschehen wiedererlangt werden könne.

Wesentliche Eckpunkte der NoCovid-Strategie waren so bereits Ende 2020 im „Lancet“ formuliert worden. Medienwirksam aufgegriffen wurden diese Ideen dann bereits am 12. Januar von einer Initiative, die sich für einen „solidarischen ZeroCovid-Strategiewechsel“ einsetzte und dafür mit einer europaweiten Online-Petition warb. Unter dem Slogan „#ZeroCovid“ fand sie auf der Plattform „WeAct“ rasch gut 100.000 Unterstützer. Die Autor:innen dieses Aufrufs, zu dessen Erstunterzeichnenden neben Beschäftigten des Gesundheitssektors auch prominenten Namen aus der Kultur, den Medien und den Hochschulen zählten, formulierten als Zielsetzung, „die Ansteckungen auf Null zu reduzieren“, wozu ein Shutdown als „solidarische Pause von einigen Wochen“ nötig sei. Im Anschluss daran müssten niedrige Fallzahlen „mit einer Kontrollstrategie stabil gehalten und lokale Ausbrüche sofort energisch eingedämmt werden“.[8]

#NoCovid will nicht #ZeroCovid sein: das Konzept der Wissenschaftlergruppe um Melanie Brinkmann und Clemens Fuest

Wenige Tage später meldete sich eine vierzehnköpfige Gruppe von Wissenschaftler:innen mit einem neuen Papier öffentlich zu Wort. Fünf von ihnen hatten bereits den Lancet-Aufruf vom 18.12. mitverfasst oder unterstützt, nämlich die Virologin Brinkmann, der System-Immunologe Meyer-Hermann, der Medizinphysiker Schneider sowie die ifo-Ökonomen Fuest und Peichl. Zusätzlich unterstützt wurden sie von weiteren Professor:innen anderer Fachrichtungen wie etwa dem Soziologen Heinz Bude, der Politologin Elvira Rosert oder dem Pädagogen Menno Baumann. Die 14 Wissenschaftler:innen versuchten sich bereits durch die Verwendung eines neuen Hashtags, nämlich #NoCovid, später noch ergänzt durch #YesToNoCovid, in den sozialen Medien von dem #ZeroCovid-Aufruf sprachlich deutlich abzugrenzen. Das hatte zum einen parteipolitische Gründe, da der #ZeroCovid-Aufruf überwiegend von linksorientierten Kräften unterstützt wurde, während die #NoCovid-Initiatoren lagerübergreifend Verbündete finden wollten. Zum anderen lehnten die #NoCovid-Autor:innen einen nochmaligen europaweiten harten Shutdown, wie er von #ZeroCovid gefordert wurde, aufgrund der hohen volkswirtschaftlichen Kosten ab.

Angelehnt an die praktischen Vorbilder in Australien und Neuseeland veröffentlichte die Autorengruppe um Melanie Brinkmann und Clemens Fuest so in zwei Schritten ihre Ideen zu einer #NoCovid-Strategie für Deutschland. Am 18. Januar publizierte sie zunächst ein Rahmenpapier unter dem Titel „Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2“, dem am 10. Februar dann eine ausführlichere Darstellung von „Handlungsoptionen“ folgte.[9]

NoCovid basiert nicht auf der Ausrottung des Virus, sondern auf einer kontrollierbaren Niedriginzidenz

Dass die #NoCovid-Gruppe in ihrem Grundansatz mit der von ihnen kritisierten #ZeroCovid-Initiative durchaus kompatibel ist, zeigt sich allerdings bereits in der Formulierung ihres Kerngedankens:

„Unsere Strategie umfasst eine Abkehr von der bisher verfolgten Eindämmungsstrategie (“mit dem Virus leben”). Wir schlagen Ideen und Ansätze für eine proaktive lokale Eliminationsstrategie vor, die das Ziel einer nachhaltig niedrigen Inzidenz – im Idealfall null – verfolgt.“[10]

Als konkreten Inzidenz-Grenzwert greifen die Autor:innen dabei die Zahl auf, die schon in dem Lancet-Aufruf vom 18. Dezember genannt war, also maximal zehn Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner wöchentlich. Entscheidend sei aber vor allem, dass es zu keiner unkontrollierten Virenverbreitung mehr komme. Solange bei Neuinfektionen eine Nachverfolgung möglich bleibe und Infizierte sowie ihre Kontaktpersonen unter Quarantäne gestellt bzw. zügig getestet werden, gelten sie auch im NoCovid-Modell noch als unproblematisch. Es geht also nicht um eine Ausrottung des Virus, sondern um die Rückgewinnung der vollständigen Nachverfolgungsmöglichkeit, die nach Einschätzung der Wissenschaftlergruppe aber nur bei einem sehr niedrigen Inzidenzwert möglich ist.

Weitgehende Eliminierung des Virus in regional begrenzten Zonen: So könnte NoCovid praktisch vor Ort funktionieren

Eine Inzidenz von unter 10 bundesweit zu erreichen, erscheint allerdings schwierig, wenngleich die Sommermonate 2020 gezeigt haben, dass das nicht unmöglich ist. Jedoch geht es im NoCovid-Modell bei der Erreichung eines Zustands der weitgehenden SARS-CoV-2-Elimination nicht gleich um das ganze Land, sondern um kleinere politisch-geografisch zusammengehörende Zonen – für Deutschland bietet sich hierzu die Ebene von Landkreisen, größeren Städten oder Metropolregionen an. In jeder dieser Zonen soll zunächst das Inzidenzziel von 10  erreicht werden. Ist das geschafft, gilt eine Zone als „gelb“ und kann mit vorsichtigen Lockerungen von Kontakteinschränkungen beginnen.

Sofern dieser Zustand über zwei Wochen zu keinen COVID-19-Neuinfektionen unbekannten Ursprungs führt, wechselt der Status der Zone auf „grün“. Nun kann unter Maßgabe von verbesserten Schutzmaßnahmen (AHAL-Regeln sowie insbesondere intensivierte Testroutinen) das öffentliche Leben wieder schrittweise normalisiert werden – ähnlich, wie wir es im vergangenen Sommer erlebt haben.

Dithmarschen und Kaufbeuren wären die ersten Gelbe Zonen

Aktuell gäbe es in Deutschland allerdings nur zwei Kreise, die sich aufgrund von Inzidenzen unter 10 umgehend zur Gelben Zone erklären und mit vorsichtigen Lockerungen beginnen könnten: Dithmarschen an der Nordseeküste und Kaufbeuren in Bayerisch-Schwaben. Dazu kämen aber noch fünf weitere Kreise, die diesem Ziel bereits so nahe wären, dass es dort mit etwas zusätzlichem Einsatz schon binnen ein oder zwei Wochen erreichbar schiene, und zwar in Kaiserslautern (7-Tages-Inzidenz 11), Donau-Ries und Lüchow-Dannenberg (beide 12), Schweinfurt (15) sowie Kusel (19).[11]

Weitere Gebiete mit Inzidenzen im niedrigeren zweistelligen Bereich (unter dem Wert 35 liegen momentan 56 Kreise, viele davon im Süden der Republik) könnten es ebenfalls innerhalb von wenigen Wochen schaffen, nicht mehr als im Lockdown befindliche „rote Zone“ gelten zu müssen. Nötig wären hier vermehrte gemeinsame Anstrengungen zur Senkung des R-Wertes – dazu gehört neben Kontakteinschränkungen und einer konsequenten Umsetzung der AHAL-Regeln natürlich auch besonders effektive Test-, Tracing und Isolationsstrategien (TTI) sowie eine möglichst zügige Erhöhung der Impfrate.

Denn genau darauf zielt der NoCovid-Ansatz ab: Dass überschaubare regionale Einheiten ein klares Ziel vor Augen haben, um Bürger:innen und politisch Verantwortlichen verstärkt zu motivieren, alle verfügbaren Möglichkeiten zur Senkung und zur vollständigen Kontrolle des Neuinfektionsgeschehens zu ergreifen, bis der Status einer Grünen Zone erreicht ist.

NoCovid contra Sisyphos: die Kontrolle der Mobilität zwischen Roten und Grünen Zonen

Neben der Mobilisierung der Pandemiebekämpfung in regional überschaubare Einheiten ist die Kontrolle der Mobilität ein wesentlicher Bestanteil des NoCovid-Modells. Denn um die in einer Grünen Zone erreichte vollständige Kontrolle des Neuinfektionsgeschehens zu erhalten, gilt es zu vermeiden, dass infizierte Personen von außen das Virus wieder neu in die Grüne Zone einschleppen. Personenverkehr aus Roten Zonen hinein in Grüne Zonen kann deshalb nicht schrankenlos zugelassen werden – vor allem Tests, aber auch Quarantänemaßnahmen werden hier zur Kontrolle angewendet.

Sofern Grüne Zonen aneinandergrenzen, kann jedoch auf Mobilitätsbeschränkungen verzichtet werden. Damit ist ein Anreiz für Anstrengungen gegeben, den Bereich der Grünen Zonen schrittweise zu größeren zusammenhängenden Gebieten auszuweiten.

Dass derartige Mobilitätsbeschränkungen wirksam sein können, hat übrigens Mecklenburg-Vorpommern im September und Oktober 2020 einige Woche lang uns vorgeführt. Denn während die Inzidenzen deutschlandweit bereits Anfang September wieder spürbar zu steigen begannen, wurde im hohen Norden die 10er-Inzidenz erst Mitte Oktober überschritten – in den Küstenlandkreisen sogar noch später. Geholfen hatten hier offenbar auch die von der Landesregierung zeitweise verhängten Mobilitätsbeschränkungen und Beherbergungsverbote.

Pandemiebekämpfung mit Anreizen für die lokale Eigenverantwortlichkeit

Zusammengefasst ist NoCovid also ein Lösungsansatz für die Pandemiekrise, der statt einer Eindämmung durch landesweite „Lockdowns“ nun die weitgehende und nachhaltige Eliminierung des Virus mittels einer lokal koordinierten und differenzierten Zugriffsweise sowie durch eine Kontrolle der Mobilität zwischen Regionen mit unterschiedlich hohem Infektionsgeschehen erreichen möchte. Der Weg von der „Roten Zone“ zur „Grünen Zone“ erscheint hart, doch besteht danach die Aussicht, eine schrittweise Normalisierung des Lebens zumindest innerhalb der eigenen Zone wieder ermöglichen zu können – und das relativ unabhängig vom Seuchengeschehen anderswo in der Republik.

Sollte es in einer „Corona-befreiten“ Zone aber doch zu nicht mehr nachverfolgbaren Neuausbrüchen kommen, muss als Gegenmaßnahme örtlich begrenzt zügig reagiert werden („lokales Ausbruchsmanagment“[12]). Sofern ein intensiviertes TTI-Regime nicht mehr ausreicht, kann aber mit einem nur auf die betroffene Zone begrenzten Kurz-Lockdown, wie Beispiele in Australien gezeigt haben, die Situation rasch wieder unter Kontrolle gebracht werden, ohne dass deswegen die Nachbarregionen automatisch mitbeeinträchtigt werden.

Abschied vom Fokus auf die national gesteuerte Seucheneindämmung?

Von der Grundidee erscheint „NoCovid“ als ein bestechend einfaches Modell, das aber mit zwei in Europa vorherrschenden Vorstellungen der Pandemiebekämpfung bricht: Einerseits geht es nicht mehr nur um eine „Eindämmung“ des Virus, für die die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems eine maßgebliche Größe ist. Denn dafür ist COVID-19 schlicht zu gefährlich und entwickelt sich zu dynamisch. Andererseits setzt „NoCovid“ nicht mehr auf eine zentral gesteuerte, möglichst stark vereinheitlichte nationale Pandemiebekämpfung, sondern baut auf die Flexibilität und Eigenverantwortung von überschaubaren lokalen Einheiten.

In ihrem zweiten Papier hat die NoCovid-Autor:innengruppe verschiedene „Handlungsoptionen“ in vier „Toolboxen“ unter den Überschriften „Mit Grünen Zonen zu dauerhaften Lockerungen“, „No-COVID Partnership Europe“, „Test – Trace – Isolate (TTI)“ sowie „Wirtschaft und Arbeitsmarkt“ näher beschrieben. Dazu wurde die Veröffentlichung weiterer Papiere mit der Ausarbeitung zusätzlicher „Handlungsoptionen“ in einem Twitter-Account des NoCovid-Projekts angekündigt. Außerdem verweisen die 14 Wissenschaftler:innen darauf, dass für eine Umsetzung des Konzepts die Unterstützung von Experten aus Australien und Neuseeland bereitstehe.

NoCovid ohne Zonen? Die „Stufenpläne ohne Jojo-Effekt“

Neben den Autor:innen der beiden NoCovid-Papers hat sich in der vergangenen Woche noch eine weitere prominente Gruppe von sieben Wissenschaftler:innen mit einem ähnlichen Ansatz unter dem Titel „Stufenpläne ohne Jojo-Effekt“ zu Wort gemeldet. [13] Sechs von ihnen hatten bereits den Aufruf „Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections“ vom 18. Dezember unterstützt; Sandra Ciesek, Thomas Czypionka und Viola Priesemann waren sogar Mitautoren dieses Papiers gewesen. Auch diese Gruppe rät in ihrem Debattenbeitrag, zumindest „mittelfristig“ eine Inzidenz von 10 anzupeilen. Dazu warnt sie vor verfrühten Lockerungen und den Negativfolgen einer „Stagnation auf zu hohem Niveau“. Insgesamt schlagen Ciesek und ihre Kolleg:innen eine „Strategie einer lokalen, differenzierten Eindämmung vor, bei der man akzeptiert, dass es lokal zu kleinen Ausbrüchen kommen kann, die Inzidenz aber trotzdem konsequent gesenkt und niedrig gehalten wird.“ Trotz der Nähe zum NoCovid-Konzept fehlt allerdings ein direkter Verweis darauf. Ein wesentlicher Unterscheidungspunkt der „Stufenpläne ohne Jojo-Effekt“ zu #NoCovid ist der Verzicht auf ein regionales Zonenmodell mit Mobilitätsbeschränkungen. Offenbar ist das im Vergleich zu den beiden NoCovid-Texten wesentlich kürzere Papier, an dem auch der Münchner Soziologe Nassehi mitgewirkt hat, als Rahmenempfehlung an die Politik für die Gestaltung eines Stufenplans gedacht, der für die kommende Woche erwartet wird.

Viel mediale Aufmerksamkeit für #NoCovid, aber Zweifel an der Umsetzbarkeit

Darüber hinaus ist in den letzten Wochen eine Vielzahl an Medienbeiträgen über „NoCovid“ erschienen, wobei das Konzept häufig wohlwollend kommentiert wird, aber dennoch auf Zweifel hinsichtlich seiner Umsetzbarkeit stößt. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein inzwischen über 700.000 Mal abgerufenes YouTube-Video der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim. Unter dem Titel „Versöhnung“ stellt sie darin in wenigen Minuten die Grundideen der NoCovid-Strategie schlüssig dar, kommt aber am Ende doch zu einem eher resignativen Résumé: „Aber so emotional, so hitzköpfig, so feindselig, wie momentan diskutiert wird… Manchmal glaube ich, allein deswegen könnte No-Covid nicht funktionieren, weil die Strategie voraussetzt, dass wir alle an Bord sind.“[14]

Zwischen Zustimmung und Zaudern: Reaktionen aus der Politik

Nicht so viel anders wie Mai Thi Nguyen-Kim klang vor zweieinhalb Wochen auch der bayerische Ministerpräsident Söder. Im heute-journal erklärte er nach der letzten Bund-Länder-Konferenz, er „wäre schon ein Anhänger einer NoCovid-Strategie“, doch gebe es dafür keine ausreichende Zustimmung unter seinen Amtskolleg:innen.[15] In der Tat hat sich außer ihm bislang sonst kein anderer Länderchef für NoCovid ausgesprochen. Jedoch zeigte der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Ralph Brinkhaus bei der Bundestagsdebatte über die Beschlüsse der letzten MPK kürzlich Sympathien für eine Zielorientierung an der 10er-Inzidenz.[16] Ähnlich wie er haben auch andere Bundestagsabgeordneten Zustimmung zu Grundgedanken des NoCovid-Konzepts geäußert, so die Gesundheitsexperten von SPD und Grünen, Karl Lauterbach und Janosch Dahmen. Zu den erklärten Unterstützern der Idee zählt außerdem der bayerische Linken-Bundestagsabgeordnete Andreas Wagner.[17] Auf kommunaler Ebene sympathisieren zwei rheinländische Metropolenchefinnen öffentlich mit NoCovid: die den Grünen nahestehenden Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker[18] und ihre grüne Bonner Amtskollegin Katja Dörner.[19]

Wenngleich der Kreis der Unterstützer:innen aus der Politik für NoCovid noch recht überschaubar ist, finden sich so doch prominente Stimmen darunter. Aber auch wenn es hinter vorgehaltener Hand sogar im Kanzleramt Sympathien für diese Idee geben sollte (denn immerhin gehört NoCovid-Autorin Melanie Brinkmann zu den von Merkel regelmäßig zu Rate gezogenen Virologinnen), ist auf dem Bund-Länder-Gipfel der kommenden Woche hier wohl kein Durchbruch zu erwarten.

Eine Chance als regionaler Modellversuch?

Vielmehr scheint es am ehesten denkbar, dass NoCovid beispielhaft von einzelnen Regionen umgesetzt werden könnte. Hierzu bräuchte es als rechtlichen Rahmen aber zumindest die Zustimmung einer deutschen Landesregierung, denn nur so könnte wohl ein Modellversuch mit den notwendigen Sonderbestimmungen vor Ort rechtssicher starten. Angesichts des öffentlichen Votums von Reker und Dörner würde sich als Erstes die Metropolregion Köln/Bonn anbieten, doch steht dem der Lockerungskurs der schwarz-gelben NRW-Landesregierung entgegen.[20]

Erinnern wir uns aber zurück an den Anfang der Corona-Krise im vergangenen März. Da war es Markus Söder, der in Bayern mit der Verhängung eines Lockdowns vorpreschte und so den zögernden Armin Laschet als Wortführer der Bremser allzu strenger Kontakteinschränkungen zum Einlenken zwang. Damit legte Söder den Grundstein für seinen demoskopischen Höhenflug in bis dato ungeahnte Beliebtheitswerte. Bis jetzt ist es sein Erfolgsrezept geblieben, sich im Rennen um die Unions-Kanzlerkandidatur als Gegenpol zu Laschet darzustellen. Was könnte da für den bayerischen Ministerpräsidenten eigentlich näher liegen, als unter seiner Schirmherrschaft einen NoCovid-Modell-Versuch in geeigneten Niedriginzidenz-Landkreisen alsbald zu starten?

Anmerkungen:

[1] Die in diesem Beitrag genannten Zahlen zu COVID-19 sind, soweit nicht anders vermerkt, sämtlich aus dem Coronavirus-Monitor der Berliner Morgenpost entnommen (Stand 28.2.2021, 15 Uhr): https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit. Als Datenquelle werden hier angegeben: Johns Hopkins University CSSE (internationale Daten von WHO, CDC (USA), ECDC (Europa), NHC, DXY (China), Risklayer/Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Meldungen der französischen Ämter und der deutschen Behörden (RKI sowie Landes- und Kreisgesundheitsbehörden).

[2] Vgl. Neue deutsche Schwelle, in: Süddeutsche Zeitung 17.2.2021, https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-inzidenz-schwellenwerte-50-35-1.5208343.

[3] Mecklenburg-Vorpommern öffnet Gartencenter, Zoos und Nagelstudios, in: Der Spiegel 25.2.2021, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/mecklenburg-vorpommern-oeffnet-wieder-baumaerkte-zoos-und-nagelstudios-a-8012c41c-3a61-437a-bb27-73d780c31b49#ref=rss?sara_ecid=soci_upd_wbMbjhOSvViISjc8RPU89NcCvtlFcJ; Söder, der Getriebene, in: Süddeutsche Zeitung 27.2.2021, https://www.sueddeutsche.de/bayern/soeder-corona-oeffnungen-1.5219258.

[4] Kurz erklärt Ausstieg: “Lockdown hat nach sechs Wochen seine Wirkung verloren”, in: Focus 25.2021, https://www.focus.de/politik/ausland/setzt-auf-massentests-kurz-erklaert-ausstieg-lockdown-hat-nach-sechs-wochen-seine-wirkung-verloren_id_13018988.html.

[5] Vgl. hierzu das Zeit-Interview mit dem australische Gesundheitsökonom Stephen Duckett: “Fangt einfach an”, in: Die Zeit 25.2.2021, https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2021-02/nocovid-australien-corona-strategie-deutschland-stephen-duckett.

[6] Viola Priesemann u.a., Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections, in: The Lancelet 18.12.2020, https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)32625-8/fulltext.

[7] Deepti Gurdasani u.a.: The UK needs a sustainable strategy for COVID-19, in: The Lancelet 9.11.2020, https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32350-3.

[8] „#ZeroCovid. Das Ziel heißt Null Infektionen! Für einen solidarischen europäischen Shutdown“, Online-Aufruf vom 12.1.2021, https://zero-covid.org/.

[9] Menno Baumann u.a., Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2, Online-Publikationen vom 18.1.2021 (Rahmenpapier) u. 10.2.2021 (Handlungsoptionen), https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_rahmenpapier.pdf u. https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_handlungsoptionen.pdf.

[10] Ebd., Handlungsoptionen, S. 2.

[11] Inzidenzwerte zu Stadt- und Landkreisen in diesem Absatz entsprechend den Angaben der Webseite „Risklayer“ vom 28.2.2021 (Stand 17.30 Uhr), https://www.risklayer-explorer.com/event/100/detail.

[12] Menno Baumann u.a., Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2, Online-Publikationen vom 10.2.2021 (Handlungsoptionen), https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_handlungsoptionen.pdf, S. 2.

[13] Sandra Ciesek u.a., Stufenpläne ohne Jojo-Effekt, Online-Publikation vom 19.2.2021, https://www.mpg.de/16463455/strategie-corona-covid-19; leicht geändert und gekürzt erschien der Text unter der Überschrift „Eine Perspektive ohne Auf und Ab“ bereits zwei Tage zuvor als Gastbeitrag in der „Zeit“: https://www.zeit.de/2021/08/corona-strategie-lockdown-stufenplan-wissenschaftler-lockerungen/komplettansicht.

[14] maiLab (d.i. Mai Thi Nguyen-Kim), Versöhnung, https://www.youtube.com/watch?v=bE315x4Vbf0 (25.2.2021).

[15] “Können dann die Zeitpläne etablieren”, https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/koennen-dann-die-zeitplaene-etablieren-100.html (10.2.2021); Söder will „No-Covid“-Strategie mit neuer Ampel für Bayern – doch der Widerstand ist zu groß, in: Münchner Merkur 18.2.2021 (aktualisierte Fassung), https://www.merkur.de/politik/soeder-coronavirus-ampel-bayern-no-covid-strategie-ueberblick-90201317.html.

[16] Einer erklärt’s der Regierung, in: Der Spiegel 11.2.2021, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkel-und-ralph-brinkhaus-zur-corona-politik-einer-erklaert-s-der-regierung-a-249b34cb-9441-4700-a7fb-192b05a499b6.

[17] Brief an Ministerpräsident Söder: MdB Wagner wirbt für No-Covid-Strategie, https://andreaswagner.die-linke-bayern.de/nc/im-bundestag/reden/detail/news/offener-brief-an-ministerpraesident-soeder-mdb-andreas-wagner-fordert-mehr-busse-fuer-schuelerbefoer/(8.2.2021).

[18] Oberbürgermeisterin Henriette Reker befürwortet No-Covid-Strategie, https://www.koeln.de/koeln/nachrichten/lokales/koelns-oberbuergermeisterin-henriette-reker-befuerwortet-no-covid-strategie_1168096.html (17.2.2021).

[19] Bonner OB Dörner unterstützt „No-Covid-Strategie“, in: Generalanzeiger 17.2.2021, https://ga.de/bonn/stadt-bonn/bonn-ob-doerner-unterstuetzt-no-covid-strategie_aid-56317457?utm_source=twitter&utm_medium=referral&utm_campaign=share.

[20] Corona in NRW: Konkreter Zeitplan für Lockerungen liegt schon vor, in: Westfälischer Anzeiger 27.2.2021, https://www.wa.de/nordrhein-westfalen/corona-nrw-lockdown-lockerungen-handel-sport-kultur-armin-laschet-christof-rasche-90218993.html.

Für ihre bewährte Korrekturhilfe als Blogartikel-Erstleserin danke ich Anja Müller (München).

„Lockdown light“ oder: Die Dialektik des Spätmerkelismus

Nach drei Wochen „Lockdown light“ fällt die Bilanz in Deutschland ernüchternd aus. Der Anstieg der Neuinfektionszahlen scheint zwar gebremst, verharrt aber weiter auf hohem Niveau. Am Freitag vermeldete das Robert-Koch-Institut (RKI) sogar einen absoluten Höchststand mit mehr als 23600 Corona-Neuinfizierten binnen 24 Stunden.[1] Der Inzidenzwert für Deutschland ist gegenüber dem Peak der vorigen Woche (159) leicht gesunken und beläuft sich heute auf 154. An der Spitze der Bundesländer liegt weiterhin die Hauptstadt Berlin mit einem Wert von 250 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner in einer Woche, gefolgt von Sachsen (212), das seit zwei Wochen nun Bayern (187), Hessen (181) und Nordrhein-Westfalen (172) als Pandemie-Hotspot unter den Flächenländern übertrifft. Den mit dem Lockdown eigentlich republikweit wieder angepeilten Inzidenz-Grenzwert von 50 unterschreiten knapp Schleswig-Holstein (49) und Mecklenburg-Vorpommern (47).[2]


Drei Wochen Einschränkungen ohne echte Trendumkehr: die Ineffizienz des „Lockdown light“

Damit wird offensichtlich, wovor Kritiker bereits bei Verkündung des Maßnahmenkatalogs Ende Oktober gewarnt hatten: Der beschlossene „Lockdown light“ reicht angesichts des Ernstes der Lage nicht aus. Er entpuppt sich so als teure, ineffiziente Maßnahme zur Pandemiebekämpfung. Verwiesen wird hier auf das Beispiel Israel, das bereits im Sommer von der zweiten Welle getroffen worden war. Auch der Regierung in Jerusalem misslang es mit einem „Lockdown light“ im Juli und August, den Anstieg der Neuninfektionen nachhaltig zu stoppen – das wurde erst im Oktober nach einem vierwöchigen harten Shutdown des Landes erreicht, der auch den Bildungsbereich nicht ausnahm.[3]


Wunsch und Wirklichkeit in seuchengeplagten Schulen

Über die Rolle der Schulen im Infektionsgeschehen ist hierzulande bereits seit Ende des ersten Lockdowns ein erbitterter Streit entbrannt. Und wie so oft bei Debatten über schulpolitische Themen entwickelte sich aus einer Kontroverse alsbald eine Art föderal getriggerter Kultus-Glaubenskampf, in dessen Verlauf die eigentliche Problemlage und die dazugehörige Faktenbasis immer mehr aus den Augen verloren wurden. Nichtsdestotrotz hat RKI-Präsident Lothar Wieler in der vorigen Woche ausdrücklich noch einmal betont, es sei aus medizinischer Sicht nicht in Abrede zu stellen, dass auch Kinder und Jugendliche bei der Dynamik des Infektionsgeschehens eine ernstzunehmende Rolle spielen.

Wieler zufolge haben ältere Schulkinder und Jugendliche zwar in der Regel ein geringeres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf nach einer Corona-Infektion. Doch geben sie offenbar durchaus das Virus sowohl untereinander wie auch an Erwachsene weiter. Lediglich bei kleinen Kindern geht die Forschung überwiegend davon aus, dass Covid-19 nicht nur milder verläuft, sondern das Virus auch weniger selten auf andere übertragen wird.

Infolgedessen dürften schulpflichtige Kinder und Jugendliche zu den bedenklich hohen Neuinfektionszahlen durchaus substanziell beigetragen haben.[4] Und insofern können die Schulen dann auch keineswegs, nur weil sich das einige Kultusminister so wünschen, als „sichere Orte“ gelten. Wie alle geschlossenen Räume, an denen sich viele Menschen auf wenig Fläche versammeln, sind Klassenzimmer in Zeiten hoher Neuinfektionsraten eher unsicher, was insbesondere für alle potenziellen Risikopatienten aus dem Schulbereich besorgniserregend sein muss – seien es nun Asthmatiker unter den Schülern oder aber Bluthochdruckpatienten unter den Lehrkräften, von denen dazu jede Achte bereits in ihrem siebten Lebensjahrzehnt steht.[5] Je virulenter Covid-19 in der Bevölkerung ist, desto unwahrscheinlicher wird es, dass allein das Einhalten von AHAL-Regeln ausreicht, um eine sich auch in den Schulen beschleunigende Virenverbreitung zu unterbinden. Dafür spricht auch, dass gerade in den letzten Wochen die Zahl der Schüler*innen und Lehrer*innen, die als neu infiziert gemeldet wurden, erheblich gestiegen ist.[6]


Zweihundert Corona-Tote täglich – nehmen wir das wirklich in Kauf?

Nun könnte man meinen, dass es sich ein reiches Land wie die Bundesrepublik doch leisten kann, die zwar etwas ineffiziente und teure, dafür aber kommodere Schutzmaßnahme eines Lockdown in der Lightversion zu wählen. Schließlich steigen ja immerhin die Infektionszahlen nicht mehr an. Wenn man nun einfach einen solchen, ggf. leicht modifizierten Komfort-Teillockdown eine Weile verlängert, könnten wir wohl auch ganz allmählich noch einen Neuinfektions-Rückgang im Dezembers erreichen und so dann schließlich sogar die Gefahr bannen, dass uns in der zweiten Welle ein ähnliches Schicksal wie die noch reichere Schweiz droht. Dort sind nämlich nach wochenlangen Inzidenzwerten von über 500 inzwischen die Intensivstationen am Ende ihrer Kapazitäten angelangt und können Behandlungsplätze nur noch an Patienten mit guter Heilungssaussicht vergeben.[7]

Doch auch wenn wir in Deutschlands Krankenhäusern die gefürchtete Triage vermeiden, fällt es beim Blick auf die über Wochen stetig gestiegenen Zahlen der täglichen Todesopfer schwer, unsere derzeitige Pandemiestrategie noch als human zu bezeichnen. Vielmehr ist das Resultat des „Lockdowns light“ in seiner Ineffizienz schlichtweg grausam. Schon in der ersten Welle waren fast 9000 Menschen in Deutschland gestorben – hier traf uns aber die Ausbreitung des Virus relativ unvorbereitet und ohne viel Vorwissen. Die zweite Welle hat bereits jetzt rund 3000 Todesopfer gefordert, und jeden Tag kommen momentan über 200 Coronatote dazu. Bis Weihnachten könnten also beim Festhalten am „Lockdown light“ über 8000 Menschen der zweiten Welle zum Opfer gefallen sein.

Noch größer ist dann voraussichtlich bis zum Jahresende die Zahl derjenigen, die eine Corona-Infektion zwar überleben, aber aufgrund eines schweren Krankheitsverlaufs von gravierenden Folgeerscheinungen beeinträchtigt bleiben. Denn seit Wochen ist auch die Zahl der Patienten stetig gewachsen, die wegen Corona im Krankenhaus auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Am Freitag waren dies in Deutschland 3615 Fälle – Tendenz auch jetzt immer noch steigend.

Der Grund dafür, dass trotz stagnierender Neuinfektionen die Zahl der schwer Erkrankten sowie der Corona-Opfer weiter wächst, liegt vor allem darin, dass sich inzwischen wieder mehr ältere Menschen mit Covid-19 anstecken. Es zeigt sich, dass der Schutz der Risikogruppen eben nur funktioniert, solange das Neuinfektionsgeschehen noch unter Kontrolle ist. Das war aber in Deutschland schon Wochen vor dem “Lockdown light” nicht mehr der Fall. Wenn wir bei 10.000 oder gar 20.000 neu Infizierten pro Tag angelangt sind, vermögen sich Risikogruppenangehörige nicht mehr ausreichend zu schützen, da sie ihre Außenkontakte ja nun einmal nicht auf Null über Wochen reduzieren können. Für sie alle – in Deutschland immerhin gut ein Drittel der Bevölkerung[8] – gleicht der Herbst in Deutschland mit seiner hohen Virenverbreitung so einem täglichen Lotteriespiel mit ihrer Gesundheit oder gar ihrem Leben. Und wer in den letzten Wochen in die hinter FFP2-Masken hervorschauenden besorgten Gesichter alter Menschen geblickt hat, die hastig im Supermarkt ihre Einkäufe erledigen, weiß, dass nicht wenige von ihnen tagtäglich um ihre Gesundheit bangen.


„Light“-Mutlosigkeit – ein stiller Erfolg der lärmenden „Querdenker“

Die Angst dieser Menschen ist real und medizinisch betrachtet leider durchaus begründet, im Gegensatz zu der sozialmedial getriggerten Hysterie gegen Pandemieschutzmaßnahmen, welche die rechtsunterwanderten „Querdenker“ kultivieren. Tragenden Teilen dieser Bewegung – Identitäre, Reichsbürger, evangelikale Fundamentalisten – ist beinahe jedes Mittel recht, um unsere offene Gesellschaft zu diskreditieren. Ihre Ideologie ist antidemokratisch und menschengruppenfeindlich. In der Flüchtlingskrise befeuerten sie die Pegida-Hetze, während der Pandemie setzen sie sich nun an die Spitze der Corona-Leugner. Trump und Bolsonaro, ihrer Idole auf nord- und südamerikanischen Präsidentensesseln, haben es vorgemacht: Rechtspopulisten sind in ihrer verbohrten Gewissenlosigkeit sogar bereit, in Seuchenzeiten über hundertausende Leichen zu gehen, wenn sich daraus politisches Kapital schlagen lässt.

In Deutschland ist der Rechtspopulismus zwar politisch noch weitgehend isoliert, aber dennoch scheint es so, wie wenn die Strategie der von ihm orchestrierten „Querdenker“ insofern teilweise aufgeht, als deren lautstark inszenierter Protest in der Öffentlichkeit mehr Gehör findet als die stillen Nöte von Millionen potenzieller Corona-Risikopatienten. Denn letztendlich ist der „Lockdown light“ das Ergebnis eines zähen Ringens der Länderchefs mit dem Kanzleramt gewesen, bei dem offensichtlich die Scheu vor allzu großen Unannehmlichkeiten, die mehrwöchige härtere Einschränkungen den Jungen und Gesunden bereitet hätten, am Ende die Oberhand behielt. Vernachlässigt wurden hingegen die Sorgen von Alten und Kranken, deren Leben bei einer halbherzigen Bekämpfung der Pandemie auf dem Spiel steht.

Sicherlich bestand Ende Oktober zunächst noch eine vage Hoffnung, dass vielleicht doch auch die beschlossenen „Light“-Maßnahmen ausreichen könnten. Wenn man sich bei der Bekämpfung der Pandemie aber tatsächlich nur darauf beschränkt, den Kollaps der Kliniken verhindern zu wollen, ist das zwar besser als das Trumpsche Corona-Verharmlosen und insofern kein staatsverbrecherisches Versagen, was in den USA wohl über Hunderttausend Menschenleben zusätzlich gekostet hat. Aber dennoch ist es eine moralisch sehr zweifelhafte Strategie, denn sie nimmt über Wochen oder gar Monate Tote und schwer Erkrankte zusätzlich in Kauf, die mit einem kürzeren harten zweiten Lockdown vermieden werden könnten. Oder darf man ernsthaft einen solchen bitteren Preis der Großelterngeneration dafür abverlangen, dass der Präsenzunterricht der Schüler und die Erwerbstätigkeit der Eltern möglichst störungsfrei am Laufen gehalten werden?

 

Durchwurschteln durch die Coronakrise im GroKo-Style: Kritik der Dialektik des Spätmerkelismus

Das Bild, das Deutschland in der Corona-Krise im internationalen Vergleich abgibt, führt uns noch einmal die Stärken und Schwächen des Merkelismus am Ende seiner Ära vor Augen: Einerseits ist das Land im Vergleich zu europäischen Nachbarn relativ gut durch die Pandemie gekommen, weil die Kanzlerin mit gewohnt kühler Logik, gesundem Menschenverstand und einem offenen Ohr für den Rat medizinischer Experten sich um nüchtern-sachliche Krisenpolitik bemüht hat. Andererseits mangelte es aber, wie so oft bei Angela Merkel, an einer Einbettung des Regierungshandelns in einen größeren gedanklichen Kontext, der die Coronapolitik in der demokratischen Öffentlichkeit leichter vermittelbar gemacht hätte. Anfangs waren Merkels pragmatischer Zugriff sowie die Abstimmung mit den Ländern in Online-Runden sicher noch sachgerecht. Die Zeit drängte, und für weiter vorausschauendes Handeln lag einfach noch zu wenig gesichertes Wissen vor. Doch spätestens im Sommer wäre es trotz aller immer noch vorhandenen Unwägbarkeiten dann angestanden, eine längerfristige Strategie zu entwerfen und breitenwirksam zu kommunizieren. Stattdessen blieb es aber beim „Fahren auf Sicht“.[9]

Der GroKo-Style, dieses altbekannte, vorzugsweise auf die „Alternativlosigkeit“ der „Sachzwänge“ gestützte, kompromiss- und konsensorientierte „Durchwurschteln“, fand also auch beim Umgang mit der Pandemie wieder Anwendung, wenngleich die Kanzlerin gelegentlich etwas strenger als gewohnt die Beratungsrunden mit den Länderchefs zu moderieren schien. Dennoch bereitete dieser Framing-arme politische Stil wie gehabt den Rechtspopulisten den Boden: Denn die Visionslosigkeit des Regierungshandelns sowie das damit verbundene Kommunikationsdefizit ließen auch diesmal wieder Leerstellen im politischen Diskurs zurück, die die Rechtspopulisten auf ihre Art ausnutzen konnten. Diesmal ermöglichten die Diskurslücken den rasanten Aufstieg der kruden „Querdenker-Bewegung“. Denn dass auch die absurdesten Coronaleugner-Verschwörungstheorien so erstaunlich viel Resonanz in den sozialen Medien und auf Protestkundgebungen finden konnten, lag wohl auch daran, dass auf Regierungsseite eben kein griffiges visionäres Rahmenkonzept für eine verantwortungsvolle Bewältigung der Pandemie vermittelt worden war. Merkels gut gemeinte, aber zunehmend sich abnutzenden Podcast-Appelle konnten diese Lücke nicht ausreichend schließen.

Während zu Beginn der ersten Welle noch spürbar war, dass große Teile der Bevölkerung die einschneidenden Maßnahmen der Kontaktbeschränkungen im Lockdown mittrugen, ebbte so die Bereitschaft, sich Pandemie-vorbeugend zu verhalten und Einschränkungen weiter in Kauf zunehmen, seit dem Frühsommer zunehmend ab. Hätte man aber frühzeitiger mit Debattierlust und Überzeugungskunst die Bevölkerung auf eine vorausschauendere Pandemiestrategie des langen Atems eingeschworen, wäre Deutschland sicherlich nicht so stark von der zweiten Welle erfasst worden, wie das aktuell der Fall ist.


„The UK needs a sustainable strategy for COVID-19“ – and so do we!

Nötig ist deshalb jetzt ein Strategiewechsel, der zunächst die Neuinfektionszahlen rasch senkt und dann den Fokus auf vorbeugende Maßnahmen sowie ein frühzeitiges Eingreifen bei neuerlichen Verschlechterungen der Situation legt. Angelehnt sein könnte dieses neue Gesamtkonzept an Vorschlägen für eine „nachhaltige Covid-19-Strategie“, die eine Autorengruppe für Großbritannien kürzlich empfohlen hat.[10]

Zunächst ist aber für mehrere Wochen eine Verschärfung des zweiten Lockdowns unumgänglich. Privatkontakte müssen noch stärker auf das Notwendigste eingeschränkt werden, die Erwerbsarbeit sollte wo immer möglich im Home Office stattfinden und auch in den Schulen muss der Wechsel zwischen Präsenz- und Distanzunterricht zumindest für ältere Schüler zum Regelfall werden. Wenn dann die Inzidenzwerte deutschlandweit unter die vorgesehenen Warnstufen wieder gefallen sind, sollte künftig frühzeitig reagiert werden, sobald es zu neuerlichen Anstiegen kommt – die ursprünglichen Warnwerte von 35 (gelb) und 50 (rot) müssen in Verbindung mit verbindlichen Kontakteinschränkungen bei ihrem Überschreiten in Kraft treten.

Um zu erreichen, dass Gesundheitsschutz und Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens auch in diesem Pandemiewinter in eine verantwortungsvolle Balance gebracht werden, könnte es helfen, sich von neuen Ideen und oder bereits bewährten Praktiken aus dem Ausland anregen zu lassen[11] – hier vier konkrete Vorschläge:

  1. Zur Verbesserung der Nachverfolgung von Infektionsketten hilft, wie ostasiatische Länder es vormachen, das digitale Tracking. Deshalb sollte eine erhebliche Steigerung der Verbreitung der Corona-Warn-App erreicht werden, die in Deutschland gerade mal von etwas mehr als 22 Millionen Menschen genutzt wird.[12] Vorschläge, wie die App attraktiver gestaltet werden kann, gibt es bereits seit einer Weile – es hapert nur an ihrer Umsetzung. Ebenso fehlt bislang eine große, öffentlichkeitswirksame Werbekampagne. Ergänzend zur App gibt es auch Vorschläge, wie ältere Menschen, die kein Smartphone haben, in das digitale Tracking-System einbezogen werden können.[13] Wenn aber nicht nur, wie derzeit, rund dreißig Prozent die Corona-App nutzen, sondern mehr als sechzig Prozent, könnte mithilfe einer effektiven Nachverfolgung der Neuinfektionen und rechtzeitiger Selbstquarantäne der Kontaktpersonen eine weitere Infektionswelle in diesem Winter wohl verhindert werden. Wieso sollte eine deutlich höhere App-Nutzungsquote in Deutschland eigentlich nicht zu schaffen sein, wo doch der Anteil der „Querdenker“-Sympathisanten in der Bevölkerung eigentlich nur bei zwölf Prozent liegt?[14] Und wenn nun schon fast alle Schüler ein Smartphone besitzen, warum ist die Nutzung der Corona-App in allen offen gehaltenen Schulen nicht einfach Ehrensache?
  2. Schnelltests sind mit unterschiedlichem Erfolg in vielen Ländern bereits eingesetzt worden. Ob eine Massen-Schnelltest-Strategie, wie sie in Südtirol, der Slowakei und nun voraussichtlich auch bald in Österreich zur Anwendung kommt, auch in Deutschland einen harten Lockdown ersetzen oder verkürzen könnte, wird kontrovers diskutiert.[15] In jedem Fall kann der vermehrte Einsatz von Schnelltests aber auch in Deutschland helfen, örtlich oder regional begrenzte neue Ausbrüche besser unter Kontrolle zu bekommen, Quarantäne-Zeiten abzukürzen und Risikogruppen besser zu schützen. Warum wird z.B. nicht in den Schulen für mehr Gesundheitsschutz mithilfe eines häufigeren Einsatzes von Antigen-Tests gesorgt? Denn bei Infektionsfällen könnte man die Quarantänezeiten für betroffene Klassen und ihre Lehrkräfte so minimieren. Stattdessen wurden angesichts gestiegener Infektionszahlen aber nun vielerorts in fragwürdiger Weise die Schutzbestimmungen maximal gelockert und nur noch infizierte Schüler sowie ihre Banknachbarn in Quarantäne geschickt.[16]
  3. Zu einer vorausschauenden Strategie gehört auch, ein Konzept bereit zu halten, das zum Einsatz kommt, wenn trotz aller Bemühungen die Infektionszahlen wieder die Deutschlandkarte in Gelb und Rot einfärben. Dann muss diesmal überlegter und entschlossener gehandelt werden. Es sollte deshalb in Präventionsplanungen bereits erwogen werden, bei einem nochmaligen Wellenbrecher-Shutdown zeitweise Schulschließungen dadurch zu ermöglichen, dass Teile der verbleibenden Ferienzeiten umgelegt werden. Was spricht beispielsweise dagegen, die Oster- und Pfingstferien notfalls um je eine Woche zu verkürzen, um so noch im Verlauf des Winters ggf. zwei Ferienwochen für einen wirksamen Wellenbrecher-Shutdown mit geschlossenen Schulen einsetzen zu können? Sicherlich ist dagegen mit dem Widerspruch der Tourismusbranche zu rechnen, die deshalb bei Lockdown-Verlusten weiterhin Hilfen erhalten muss. Den Lehrkräften dürfte eine solche, auch ihre Gesundheit schützende Coronaferien-Regelung im Zweifelsfall lieber sein als der derzeitige Präsenzunterrichts trotz hoher Inzidenzzahlen.
  4. Schließlich sollte die Pandemiekrise noch offensiver als bisher dafür genutzt werden, um anstehende Umgestaltungen und Modernisierungsmöglichkeiten der Lern- und Arbeitswelt mittels Digitalisierung voranzutreiben. Hier hinkt Deutschland hinterher, aber einiges ließe sich unter Ausnutzung des anhaltenden Handlungsdrucks noch zügiger verändern. Denn viele Arbeitnehmer werden auch nach Corona dankbar sein, wenn Home Office eine feste Alternative zur Anwesenheit im Büro bleibt. Arbeitgeber sparen dauerhaft Ausgaben, wenn Meetings virtuell ohne Kosten und Zeitverlust durch Anreisen abgehalten werden. Und jeder jetzt noch unternommene Schritt zu mehr Digitalisierung der Schulen zahlt sich als Modernisierung der Bildung langfristig aus. Staatliche Investitionen müssen hier aber nicht nur angekündigt, sondern die Anschaffung dann auch möglichst rasch getätigt werden – etwa Tablets für Schulklassen oder Dienstlaptops für Lehrkräfte.


Wie wir die Dialektik des Spätmerkelismus überwinden können

Dass Covid-19 uns auch noch im Jahr 2021 länger beschäftigen wird, ist absehbar. Aber erfreulicherweise ist in Europa nun wohl in Kürze der erste Impfstoff zugelassen, so dass vielleicht schon in wenigen Wochen mit Impfungen begonnen wird. Auch wenn eine durch Impfstoffe erzielte Herdenimmunität in der Bevölkerung wohl erst im späteren Verlauf des nächsten Jahres die Situation grundlegend verändern kann, ist das Ende der Krise nun endlich in Sicht. Diese früher als erwartete Aufhellung des Horizonts sollte es eigentlich erleichtern, eine vorausschauende, durchdachte Strategie der Bevölkerung zu vermitteln, auch wenn damit weiterhin erst einmal Einschränkungen verbunden sind. Die Regierung sollte sich hierzu mit Experten nochmals abstimmen und dann einen schlüssigen Plan zügig zur Diskussion zu stellen.

Eine humane Gesamtstrategie muss dabei den wirksamen Schutz der gesamten Bevölkerung zum Ziel haben. Es darf nicht weiterhin der Eindruck bestehen, dass der störungsarme Weiterbetrieb der Wirtschaft und das Offenhalten der Schulen mit einem Art Überlebens-Lotteriespiel der Alten und Kranken bezahlt wird.

Eine erfolgreiche Pandemiestrategie lebt in einem demokratischen Staat von der Bereitschaft, sich daran freiwillig zu beteiligen. Rigorose staatliche Zwangsmaßnahmen wie in China werden in Deutschland nicht zum Ziel führen – dann hätten wir unsere Rechte wirklich zugunsten einer „Corona-Diktatur“ aufgegeben, von der sich „Querdenker“ offenbar schon beim korrekten Aufziehen einer Mund-Nasen-Bedeckung geknebelt glauben.

Widerspruch oder Protest sollten Ansporn sein, die Pandemiestrategie im Parlament oder bei öffentlichen Auftritten besser zu begründen. Aber auch wenn wir die hartnäckige Corona-Leugner-Szene nicht erreichen, wird es maßgeblich darauf ankommen, möglichst viele Menschen mithilfe eines überzeugend vermittelten Gesamtkonzepts dafür zu motivieren, sich aktiv an einer humanen und solidarischen Pandemiebekämpfung zu beteiligen. Denn nur so können wir diese Strategie 2021 gemeinsam zum Erfolg führen.


Anmerkungen:

[1] Mehr als 23.600 Corona-Neuinfektionen, tagesschau.de vom 20.11.2020, https://www.tagesschau.de/inland/rki-neuinfektionen-rekord-103.html.

[2] Die Inzidenzzahlen sind entnommen aus dem Coronavirus-Monitor der Berliner Morgenpost (Stand 22.11.2020, 14 Uhr): https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit. Als Datenquelle werden hier angegeben: Johns Hopkins University CSSE (internationale Daten von WHO, CDC (USA), ECDC (Europa), NHC, DXY (China), Risklayer/Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Meldungen der französischen Ämter und der deutschen Behörden (RKI sowie Landes- und Kreisgesundheitsbehörden).

[3] Wie Israel die Infektionsrate drastisch senkte, in: Der Tagesspiegel 29.10.2020, https://www.tagesspiegel.de/politik/von-9000-auf-1000-wie-israel-die-infektionsrate-drastisch-senkte/26572386.html.

[4] Davon geht auch eine in „Science“ kürzlich veröffentlichte Studie aus, über die der Tagesspiegel am 2. Oktober berichtete: Kinder und junge Erwachsene treiben die Covid-19-Pandemie, https://www.tagesspiegel.de/wissen/kinder-sind-sehr-effiziente-uebertraeger-kinder-und-junge-erwachsene-treiben-die-covid-19-pandemie/26236846.html?fbclid=IwAR0a-6d-3FdKw81-i7kjq65SAW6oG0T8zG96EPLJsLpu5JddspbBPpG-G4o.

[5] So die Zahlen des statistischen Bundesamt zum vergangenen Schuljahr: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Schulen/Tabellen/allgemeinbildende-lehrkraefte-altebundeslaender.html.

[6] Zahl der Infektionen an Schulen nimmt stark zu, in: Der Spiegel 6.11.2020, https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/coronavirus-zahl-der-infektionen-an-schulen-nimmt-stark-zu-a-f6d60280-6d53-4755-976c-0d9f1177e471-amp?__twitter_impression=true.

[7] Alle Intensivbetten voll: Jetzt bezahlt die Schweiz den Preis für ihren Sonderweg, in: Focus 22.11.2020, https://www.focus.de/politik/ausland/mediziner-schlagen-alarm-intensivbetten-voll-jetzt-bezahlt-die-schweiz-den-preis-fuer-ihren-sonderweg_id_12676385.html.

[8] Spahn: 30 bis 40 Prozent sind Risikogruppe, in: zdfheute 9.11.2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-spahn-risikogruppen-100.html.

[9] Einen ausführlicherer Rückblick auf Deutschlands Umgang mit der Pandemie im Frühjahr und Sommer habe ich in meinem letzten Blogbeitrag vom 27.10.2020 gegeben.

[10] Deepti Gurdasani u.a.: The UK needs a sustainable strategy for COVID-19, in: The Lancelet 9.11.2020, https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32350-3. Vgl. auch das Interview mit der Göttinger Mitautorin des Papiers, Viola Priesemann, das in der Berliner Zeitung unter dem Titel „Forscherin zur zweiten Corona-Welle: ‚Ich hätte sofort lokal gegengesteuert‘“ am 17.11.2020 veröffentlicht wurde: https://www.berliner-zeitung.de/gesundheit-oekologie/interview-viola-priesemann-li.118934. Von Campact e.V. wurde im Sinne dieser Forderungen ein Offener Brief an die Bundes- und Landesregierungen online lanciert, der bislang fast 80.000 Unterstützer gefunden hat: https://aktion.campact.de/corona/appell/teilnehmen?utm_source=homepage&utm_medium=cms.

[11] Vgl. Geht das jetzt immer so weiter? In: Die Zeit 17.11.2020, https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-11/corona-politik-impfung-lockdown-kontaktverfolgung-pandemiekontrolle-strategien.

[12] Corona-Warn-App: Downloads überschreiten 22-Millionen-Marke, in: connect 17.11.2020, https://www.connect.de/news/corona-warn-app-download-zahlen-3200860.html.

[13] Vgl. Push-Nachricht: “Einmal durchlüften, bitte!”, in: Süddeutsche Zeitung 19.11.2020, https://www.sueddeutsche.de/digital/corona-app-cluster-1.5120356.

[14] So die Zahlen des Politbarometers vom 13.11.2020: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/politbarometer-rueckhalt-fuer-geltende-massnahmen-100.html?slide=1605210718767.

[15] Wie sinnvoll sind Massentests? In: Der Spiegel 20.11.2020, https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-strategie-in-oesterreich-wie-sinnvoll-sind-massentests-a-a22f1ab1-b2ca-4413-b953-88bb7ff9288c#ref=rss?sara_ecid=soci_upd_wbMbjhOSvViISjc8RPU89NcCvtlFcJ.

[16] Mehr Infektionen, weniger Isolation, in: Der Spiegel 12.11.2020, https://www.spiegel.de/panorama/bildung/schulen-in-der-coronakrise-mehr-infektionen-weniger-isolation-a-0e12ba63-2ad2-4f43-a516-c73e5731f040#ref=rss?sara_ecid=soci_upd_wbMbjhOSvViISjc8RPU89NcCvtlFcJ.