Dirk Ippen zum Achtzigsten – Wie wird man in einem Leben so unverschämt reich?

Großverleger Dirk Ippen ist heute 80 geworden
Eine kritische Würdigung

Sie kennen Dirk Ippen nicht? Dann wird es Zeit. Immerhin hat der umtriebige Großverleger im Laufe seines Lebens nicht nur ein Vermögen von wenigstens 500 Millionen Euro, sondern auch rund 100 Zeitungstitel zusammengerafft. Und so gehört ihm bzw. seiner Ippen-Gruppe mit einiger Wahrscheinlichkeit auch ihre regionale Tageszeitung und – wenn, dann richtig – auch der führende Anzeigenblattverlag in ihrer Gegend. Sollten sie dieser Tage also auf eine peinlich-unterwürfige Würdigung des alten Herrn stoßen, sehen sie es dem Schreiber nach. Er ist jung und braucht das Geld.

Ich selbst will Dirk Ippen gerecht werden – gerade um ihn zum Ende hin hart kritisieren zu dürfen. Und tatsächlich haben Dirk Ippen und sein Lebenswerk zum Achzigsten eine kritische Würdigung verdient. Wer also ist Dirk Ippen? Wie wird man als Jurist in einem Leben eigentlich so unverschämt reich? Hat er dabei wenigstens Gutes gestiftet? Und welche Auswirkungen hat sein verlegerisches Wirken auf unser Gemeinwohl?

Zur Promotion den ersten Verlag
Interessante Einblicke in sein Leben gewährt Dirk Ippen in seiner Autobiografie “Mein Leben mit Zeitungen”(2019): Dirk Ippen wurde mitten ins Verlagsgeschäft hineingeboren, geprägt vom promovierten Vater Rolf Ippen, Mit-Herausgeber und Geschäftsführer der WAZ-Gruppe von 1949-1963. Der junge Dirk studiert Jura in Freiburg, macht Praktika bei Banken und Verlagen und promoviert 1967 über die damals neue Rechtsform der “Einheitsgesellschaft GmbH & Co.KG”. Vermutlich um den Junior im Verlagsgeschäft zu halten, oder auch nur zum Üben, kauft Rolf Ippen vierzig Prozent Anteile des Westfälischen Anzeigers, einer Tageszeitung mit einer Auflage von 36.000 Exemplaren. Dirk Ippen wird Geschäftsführer “seines” ersten Verlages. “Gleichwohl haderte ich mit meinem Schicksal, mich mit 26 Jahren für (…) ein Leben  als Drucker und Verleger von Lokalzeitungen in Hamm entscheiden zu sollen.”

Es kommt anders. Anfang 1968 stirbt der Vater, die Hochzeitsreise in die USA wird im Sommer nachgeholt. Zuerst nach Boston, dann nach Decatur in Illinois geht die Reise, “noch mehr tiefste Provinz als Hamm.” Der dortige Lokalverleger, wie Ippen in Hamm ohne Wachstumsperspektive, hatte nach und nach benachbarte Heimatzeitungen aufgekauft und dabei eine wachsende Zeitungskette gebildet. Ippen darf das Verlagshaus “studieren”, versteht, wie hier Know-how zentral gebündelt und wie ein Filialsystem in die Fläche wieder ausgerollt wird. “Bis zu 100 selbständige Lokalzeitungen unter einheitlichem Management” – the dream was born. Vorortblätter (Suburban Newspapers), das erkennt er in den USA, haben einen entscheidenden Vorteil gegenüber den in der City erscheinenden Zeitungen: “Im Anzeigenverkauf kassiert man doppelt. Einmal von den örtlichen Gewerbetreibenden und dann von den Einzelhändlern” im Oberzentrum.

Den “Marshallstab im Tornister” 
Zurück in Deutschland dreht Dirk Ippen auf, wie man heute sagt. Im Bewusstsein “den Marshallstab im Tornister” zu haben (Ippen über Ippen) – und in den USA in den verlegerischen Durchblicksstrudel geraten zu sein – trimmt er seine Hammer Verlagszentrale auf Effizienz und Ertrag, denn Expansion braucht Eigenkapital. Der Kasseler Verleger Wilhelm Batz, ein Studienkollege des Vaters, verschafft ihm “einen Aktenordner mit den Handelsregister-Eintragungen von sämtlichen deutschen Zeitungsverlagen”. Auch sein Beuteschema bekennt Ippen in seiner Autobiografie offen: Er sucht nach ertragsschwachen Verlagen mit mehreren Gesellschaftern, möglichst in fortgeschrittenem Alter und aus “verschiedenen Familienstämmen”. Hier wittert Dirk Ippen die Chance, sich strategisch einkaufen zu können.

Teilen und wachsen bei Bremen
Es klappt. Ippen kauft sich in Syke südlich von Bremen in die eigentlich bedeutungslose Kreiszeitung ein – und fusioniert binnen weniger Jahre gleich acht ehemals selbständige Kreisblätter unter seiner Regie. “Teilen und wachsen vor den Toren Bremens” überschreibt Ippen den von ihm “moderierten Prozess” und beweist zugleich, dass sich sein Geschäftsmodell tatsächlich “ausrollen” lässt.

Bereits 1974 kauft Ippen von Peter Udo Blintz eine maßgebliche Beteiligung an der Offenbach Post, revolutioniert die technische Produktion und schröpft von nun an das Rhein-Main-Gebiet. “Die Anzeigenentwicklung in diesen Boomjahren im prosperierenden Stadt- und Landkreis Offenbach war phänomenal.” Die Kriegskasse wächst, aber Bremen lässt sich in Frankfurt so leicht nicht wiederholen.

Mit dem Münchner Merkur in die erste Liga
Ippen kauft was er kriegen kann, bundesweit, besonders gerne unterbewertete Verlage jenseits des Zenits. Im Januar 1982 kauft Ippen von Springer den heruntergewirtschafteten Münchner Merkur, das an der Isar ansässige Boulevardblatt tz und Anteile am Oberbayrischen Volksblatt (OVB) – ein unglaublicher Move für einen Verleger aus der westfälischen Provinz. Dirk Ippen, jetzt Anfang 40, ist in der ersten Liga der Verleger angekommen – und fürderhin nicht mehr aufzuhalten.

Wenden wir diese Laudatio, denn der Verfasser ist keiner der Lohnschreiber des Herrn Dr. Ippen.

Da sich mit Qualitätsjournalismus kein Geld verdienen lässt, wie Ippen und vor allem sein Neffe Daniel Schöningh immer wieder betonen, drängt sich die Frage auf, wo die Gewinne herkommen. Denn 500 Millionen Euro lassen sich nicht so leicht aus Kreisanzeigern und Anzeigenblättern, also mithin aus den eher bescheidenen Erträgen der lokalen Einzelhändler und Gewerbetreibenden, pressen. Auch nicht in 25 Jahren. Wie – oder: auf wessen Kosten, die Frage muss erlaubt sein – wurde jemand wie Dirk Ippen so obszön reich?

Auf jeden Fall mit brutaler Zielstrebigkeit. Wo Ippen, der “Sanierer”, aufschlägt, bleibt kein Stein auf dem anderen. Gewachsenes ist dem Fremden fremd. Immer werden Redaktionen “verschlankt” oder zusammengelegt, immer wird im Anzeigenverkauf die Schlagzahl erhöht. Wer sich nicht fügt, fliegt. Ippen ist im System Ippen immer Gewinner.

Nordhessen wird Ippen-Land
Exemplarisch sei das “Prinzip Ippen” entlang der Übernahme der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) im Jahr 2002 skizziert: Altverleger Rainer Dierichs hatte Jahre zuvor in aller Stille auch den regionalen Anzeigenblattverlag erworben, weitere Zukäufe im Umland untersagte ihm jedoch der Bundesgerichtshof. Ippen und Schöningh fürchten das Kartellamt nicht und wagen erneut einen großen Coup: Im Februar 2002 übernimmt Ippen die damals zweitgrößte hessische Tageszeitung, wird zugleich Eigner des größten Anzeigenblattes (ExtraTip) und dessen ausgegliederter Vertriebseinheit “Top direkt”. Über eine Medienbeteiligungsgesellschaft (MBG Bad Hersfeld) kauft Schöningh im Sommer 2002 unauffällig auch den letzten echten Wettbewerber im Verbreitungsgebiet der HNA, die MB Media in Witzenhausen mit 17 Anzeigenblättern. Nordhessen wird binnen eines Jahres dem Ippen-Imperium einverleibt: Ende 2002 bedient Ippen mit der Tageszeitung HNA über 220.0000 Abonnenten und erreicht mit seinen Anzeigenblättern fast 750.000 Haushalte. Natürlich wirkt das nordhessische Pressemonopol wettbewerbsverzerrend – doch wenn es um Ippen geht, schweigen die Wettbewerbshüter – einmal mehr.

Zwar kann man dem Lebenswerk des heute Geehrten getrost die Vernichtung hunderter, vermutlich sogar tausender Redakteurs- und Journalistenarbeitsplätze zurechnen. Doch auch das Schicksal der HNA erklärt nicht zureichend, wie man binnen eines Lebens so unglaublich reich werden kann.

2015: Eine Großrazzia bringt Unschönes zutage
Das offenbart erst eine Großrazzia im April 2015, bei der 600 Zollbeamte ausrücken, um insgesamt 90 Durchsuchungsbeschlüsse zu vollstrecken. Wie der SPIEGEL seinerzeit schreibt, wurde nach Informationen des Hamburger Nachrichtenmagazins „Vermögen im Wert von etwa zwei Millionen Euro sichergestellt. Die Behörden gehen davon aus, dass die Unternehmen, die zum Einflussbereich des Münchner Verlegers Dirk Ippen gehören, sich mit einem illegalen Trick um Sozialversicherungsabgaben in Millionenhöhe gedrückt haben. Im Zentrum steht dabei nach Angaben eines Ermittlers neben einem Offenbacher Unternehmen die Firma Top Direkt Marktservice GmbH in Kassel, die von dem Ippen-Neffen Daniel Schöningh geleitet wird und unter anderem auf die Verteilung kostenloser Werbezeitschriften spezialisiert ist.“ Rührt etwa ein erklecklicher Teil des Ippen-Vermögens von der Ausbeutung seiner Austräger?

Die Antwort ist ein eindeutiges JA. Zwar ist es Daniel Schöningh seinerzeit in Kassel noch einmal gelungen, den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Doch Einsicht zeigen die Herren Ippen und Schöningh nicht. Im Gegenteil, beide betonen seither bei jeder Gelegenheit, der Mindestlohn für Austräger sei das Totenglöckchen der Branche. Letzte Woche hat der alte Herr sogar vorgeschlagen, die Tätigkeit den haushaltsnahen Dienstleistungen zuzurechnen. Einfach dreist.

Denn was kaum jemand weiß: Für Zeitungs- und Blättchen-Austräger gibt es dank der erfolgreichen Lobbyarbeit des Verlegerverbandes eine andauernde nachteilige Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn. Damit die arg gebeutelten Verleger nicht verarmen, gilt für Austräger immer der Mindestlohn des vorletzten Jahres. So lassen sich, ich habe es an anderer Stelle einmal vorgerechnet, pro Austräger als Beitrag zur Rettung des Qualitätsjournalismus bestimmt 500 Euro im Jahr einsparen. Meines Wissens existiert dieses Sonderrecht bis heute. Pfui.

Wer sozial Schwache ausbeutet, kann kein Humanist sein
Bringen wir diesen schrecklichen Riemen zu Ende. Natürlich war Dirk Ippen in seiner Zeit ein Visionär. Aber zur Wahrheit gehört eben auch, dass der über komplizierte Eigentumsverhältnisse promovierte Jurist beim Aufstieg gemeinsam mit seinen Geschäftspartnern Wettbewerber, Altverleger und Kartellämter an der Nase herumgeführt hat. Auch den Niedergang des deutschen Journalismus hat Ippen nicht alleine zu verantworten, da haben auch andere gierige Verleger ihren Beitrag geleistet. Absolut scheinheilig ist es allerdings, sich ausgerechnet von Daniel Schöningh als “Humanist im besten Sinne” titulieren zu lassen. Denn wer mit System Schüler, aber auch Alleinerziehende und sozial Schwache ausbeutet, kann kein Humanist sein.

Nun kennen Sie Dirk Ippen, besser meine Sicht auf den Herrn Doktor. Sie haben verstanden, wie Dirk Ippen so reich werden konnte. Und vermutlich auch, warum den Schleimereien seiner Lohnschreiber am heutigen Tag ein so umfänglicher Text entgegengestellt werden muss. Denn zu unser aller Glück tippen immer noch nicht alle für Ippen. Herzlichen Glückwunsch!

Quellen / Nachweise:

Ippen, Dirk: Mein Leben mit Zeitungen (2019).
https://societaets-verlag.de/produkt/mein-leben-mit-zeitungen/

Kreissl, Rüdiger: Alle tippen für Ippen. (1.6.2003)
https://mmm.verdi.de/medienwirtschaft/alle-tippen-fuer-ippen-23301

FAZ.net Auch in der zweiten Liga spielt man schön. (2.7.2011)
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/zeitungsverleger-dirk-ippen-auch-in-der-zweiten-liga-spielt-man-schoen-1656003.html

Skandal Chronik . Großrazzia: 600 Beamte durchleuchten Ippens Zeitungsvertrieb. (21.4.2015 ff) http://werra-meissner-dreist.de/skandal-chronik/

SPIEGEL online. Razzia bei Zeitungsvertrieben. (24.4.2015)
https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/sozialabgaben-razzia-bei-zeitungsvertrieben-a-1030427.html

Deutschlandfunk. Die Erfolgsgeschichte eines Verlegers. (13.10.2020)
https://www.deutschlandfunk.de/dirk-ippen-wird-80-die-erfolgsgeschichte-eines-verlegers.2907.de.html?dram:article_id=479103

Newsroom.de. Warum Verleger Dirk Ippen weitere Anteile verschenken will und an wen (6.10.2020) https://www.newsroom.de/news/aktuelle-meldungen/vermischtes-3/warum-verleger-dirk-ippen-weitere-anteile-verschenken-will-und-an-wen-912994/

MDR. Medien360G / Altpapier. Das gedruckte Facebook. (14.10.2020)
https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-1704.html

Merkel ist komplett bescheuert

Man muss es an den Anfang stellen: Der Skandal ist nicht, dass Tafeln mittlerweile Anmelderegister führen (müssen) und dabei in eigner Verantwortung entschieden haben, deutsche Armutsrentner zu bevorzugen. DER EINZIGE SKANDAL IST, DASS ES ÜBERHAUPT TAFELN GEBEN MUSS!!!! Verantwortung trägt dafür beinahe so lange wie es Tafeln gibt: Angela Merkel.

Unter Merkels Niveau dumm war daher ihre diesbezügliche Einlassung – ganz als hätte sie und ihre Politik mit dem unübersehbaren Elend der betroffenen Menschen – egal ob Deutsche oder Ausländer – nichts zu tun.

Merkel hat zunächst andere “Kategorisierungen” vorgeschlagen – ist sie eigentlich total bescheuert? Jetzt lässt sie professionell zurückrudern.

Für uns Volk ist das so hilfreich wie der Ratschlag, eben Kuchen zu fressen, wenn kein Brot mehr da ist.

Die Göttinnendämmerung ist überfällig.

Mut zur Wahrheit?

Ist politische Inkorrektheit gegenüber politisch Inkorrekten politisch inkorrekt?

weidel-alice-afd-bvMut zur Wahrheit: Wer derzeit bei der AfD adrett ins rechte Horn bläst, hat gute Chancen auf ein Bundestagsmandat. In diesem Sinn zieht auch die hübsche rechtsliberale Alice Weidel (Foto), Mitglied im Bundesvorstand der AfD, mit basisgefälligem Politiker-Bashing durch die Lande. https://www.youtube.com/watch?v=V1rfdB2Jihk

Dass die promovierte Volkswirtin als ehemalige Inverstmentbankerin und Vermögensverwalterin der bei der AfD-Basis verhassten Elite zuzurechnen ist, scheint im Moment ebenso wenig widersprüchlich, wie die Tatsache, dass die unverheiratete Lesbe ihr Kind in einer homosexuellen Partnerschaft großzieht.

Frau Dr. Alice Weidel, soviel Chuzpe finden wir mutig.

Historia magistra vitae, Frau Doktor! Ernst Röhm haben seinerzeit weder seine Verdienste für die Bewegung noch sein Reichstagsmandat vor der Homophobie seiner Partei zu schützen vermocht.

Ich will nicht “in Deutschlandfahnen baden”

fahnenmeer_2016Alexander Gauland von der AFD, kurz vor der Fußball-EM durch scheinbar grenzdebile Äußerungen über Jerome Boateng und das DFB-Team aufgefallen, ist keinesfalls, wie von mir in einem ersten Furor behauptet, nur ein “frustrierter, schamlos verlogener und dummer alter Mann”. Das greift nicht nur zu kurz, es ist sogar falsch und verharmlost diesen Mann. Ob man Alexander Gauland bereits einen Nazi nennen sollte, oder überhaupt darf, sei dahingestellt. Ein erfolgreicher rechter Demagoge ist er allemal. Anfang Juni 2016 hat Alexander Gauland einmal mehr bewiesen, wie professionell er sein Fach und den Umgang mit den Medien beherrscht. Und wir sind ihm vermutlich alle, auch die ZEIT, Anne Will und der SPIEGEL, auf den Leim gegangen.

Jan Fleischhauer empfiehlt in seiner SPIEGEL-Kolumne vom 06.06.2016 Gauland wörtlich zu nehmen. Das ist zwar ein erster Schritt, greift aber immer noch zu kurz. Man sollte in Betracht ziehen, dass jemand wie Alexander Gauland auch das mit der Lügenpresse so meint wie er es sagt – und Interviews und Talkshow-Auftritte mit allem Zynismus für seine Ziele vernutzt.

Ich vermute, Alexander Gauland kommuniziert schlicht durch Andersdenkende hindurch, ganz egal ob ihm Anne Will vermeintliche Fangfragen stellt oder Justizminister Heiko Maas höchstselbst ihn zu widerlegen versucht. Ob er seinen scheinbaren Gesprächspartnern argumentativ standhält, spielt für ihn eine nachgeordnete Rolle – für ihn und seine Zielgruppe sind sie ohnehin nur Politiker-Darsteller, Lügenpresse-Vertreter, Vertuscher, Schönredner und verirrte Gutmenschen. Während sie sich empören und ihm widersprechen verstärken sie seine Wirkung auf die, die er erreichen will. Was Gauland da absondert, sind keine Chiffren, die es zu enträseln gilt. Für seine Zielgruppe sind das verständliche Inhalte, klare Positionen und nur noch kümmerlich kaschierte politische Bekenntnisse zur nationalen Rechten.

Wie Gauland mit seinen Wählern kommuniziert, zeigt ein von AFD-Television veröffentlichtes youtube-Video, aufgenommen auf einer Demo in Elsterwerda (Brandenburg) am 2.06.2016, also wenige Tage nach dem umstrittenen Interview. Hier zitiert Redner Gauland vier Mal, wie beiläufig, den Spruch “Heute sind wir tolerant und morgen fremd im eigenen Land” – von einem vor ihm hoch gehaltenen Demonstrationsplakat. Der Spruch ist nicht neu, stammt nachweislich von der NPD und ist seit vielen Monaten auf den Demonstrationen der braunen Wutbürger zu sehen. Die Asylpolitik der “Noch-Kanzler-Diktatorin” Angela Merkel geißelt er als Irrsinn, die vor ihm (und um das NPD-Plakat versammelten) fordert er auf “mit allen Mitteln dagegen (zu) stehen und dagegen (zu) kämpfen”. Die Menge applaudiert und skandiert “Widerstand”.

Alexander Gauland, AFD-TV
https://www.youtube.com/watch?v=STUZrZ4gl7A

Faktisch ist der scheinbar so harmlose Kampagnenspruch “Heute sind wir tolerant und morgen fremd im eigenen Land” eine Art roter Faden zwischen AfD und NPD. In der rechtsextremistischen Szene populär gemacht, hat ihn die Neonazi-Band Gigi & Die Braunen Stadtmusikanten. Das zu deren Song “Fahnenmeer” von “NS Christ” auf youtube eröffentlichte Video, ist ein bislang vom Rechtsstaat wohl unentdecktes Meisterwerk rechtsextremer Propaganda. Zugleich gewährt es einen einzigartig unverstellten Einblick in das Weltbild derer, mit denen Alexander Gauland spricht, wenn er sagt, was er sagt.

NS Christ / Nazipropaganda
https://www.youtube.com/watch?v=0phvnyBVjZQ

Gauland weiß genau, was er sagt, wem es gilt und wie es dort ankommt. Als argumentative Überlegenheit daherkommende intellektuelle Überheblichkeit ist ganz sicher der falsche Weg der Auseinandersetzung – und ziemlich sicher auch zu wenig Widerstand. Gauland und seine Nazifreunde jedenfalls meinen es ernst mit einem ganz anderen Deutschland  – und wollen keinesfalls nur “in Deutschlandfahnen baden”.

Anmerkung des Autors: Bitte melden Sie das youtube-Video nicht – ich finde es hat seine Berechtigung am Rande der Legalität. Den Artikel zu verlinken ist natürlich erwünscht. Aber bitte verbreiten sie die Links nicht unkommentiert. Zumindest beim Zweiten handelt sich ohne Zweifel um Nazi-Propaganda.

Jérôme Boateng – ein farbiger deutscher Weltmeister

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boateng_privatJérôme Boateng, geb. 1988 in West-Berlin. Vater Ghanaer, Mutter Deutsche. Triple 2013 mit dem FC Bayern. Mit der deutschen Nationalmannschaft gewann er die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien. Foto: Boateng.

“Wir sind Weltmeister” dank junger Männer wie Jérôme Boateng. Allerdings wird sich kaum einer von uns die Nachbarschaft zu Jérôme Boateng leisten können. Die meisten von uns sind dafür schlicht zu arm.

Alexander Gauland (AFD) ist ein frustrierter, schamlos verlogener und, wie wir jetzt auch wissen: dummer alter Mann. http://www.welt.de/vermischtes/article155987515/Ich-wusste-gar-nicht-dass-Boateng-farbig-ist.html

 

Claudia Roth – Keine Macht für Niemand

Pressefoto-Claudia-Roth-201DEUTSCHLAND, DEINE DEUTSCHEN (9)

Ich mag Claudia Roth, obwohl mich ihre Partei oft furchtbar nervt. Was sie sagt gefällt mir oft, die hartnäckige Leichtigkeit mit der sie ihre Postitionen vertritt, fast immer.

Liest man ihre Wiki-Biografie mit ein wenig Kontextwissen, zeigt sich ein kunterbuntes Leben – und zugleich eine beruflich-politische Karriere, wie sie heute, ganz unabhängig vom Geschlecht, in unserer ordentlichen Republik kaum noch möglich wäre.

Mit Abitur und zwei Semestern Theaterwissenschaften in München, gefolgt von kurzen Dramaturgie-Assistenzen in Memmingen und Dortmund, wird Claudia Roth Dramaturgin bei der Experimentaltheater-Truppe “Hoffmanns Comic Teater” in Unna.

Dort kreuzen sich ihre Wege mit Rio Reiser, der 1976 an einer Struwwelpeter-Aufführung mitwirkt. Rio Reiser ist bekennender Homosexueller und als Kopf der Politrockband “Ton Steine Scherben” Mitte der westdeutschen Siebziger musikalisches Sprachrohr der Linksalternativen und Hausbesetzer-Szene (“Keine Macht für Niemand”). https://www.youtube.com/watch?v=zOW6w-MFKNg

1982 wird die exkatholische schwäbische Zahnartzttocher Managerin der Band und zieht zu ihrem Freund, dem Keyboarder Martin Paul, und Rio Reiser in die Band-Kommune in Nordfriesland. 1985 sind “Ton Steine Scherben” pleite, die Band löst sich auf.

Zwar fällt eine wie Claudia Roth, mittlerweile 30 und noch immer ohne das, was man heute berufliche Qualifikation nennt, so auch einmal hin. Aber sie steht sofort wieder auf. Sie wird kein Sozialfall – wer mit den verrücktesten Anarchisten der Republik klargekommen ist, übersteht auch die Gründungswehen einer neuen Partei schadlos. Noch im Jahr der Bandpleite wird sie Pressesprecherin der Bundestagsfraktion der Gruenen (1985-1989).

1989 wird Claudia Roth ins Europäische Parlament gewählt, ist dort von 1994-1998 sogar Fraktionsvorsitzende der Grünen. 1998 wird sie über die bayerische Landesliste erstmals in den Bundestag gewählt, doch die drei Ministerposten in Deutschlands erster rot-grüner Regierung gehen an Joschka Fischer, Jürgen Trittin und Renate Künast. Zwar fallen diese drei bei der nächsten Wahl um den Parteivorsitz infolge einer absurd radikalen Trennung von Amt und Mandat als Wettbewerber aus – aber Claudia Roth muss nach ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden Ende März 2001 ihr Bundestagsmandat niederlegen. Es gelingt ihr auch als Parteivorsitzende zunächst nicht, die Trennungsregelung parteiintern zu entschärfen. Konsequent entscheidet sie sich für ihr Bundestagsmandat und tritt im Dezember 2002 nicht erneut für den Parteivorsitz an.

Auch 2002 hatte Schröder hat immer noch keinen Platz am Kabinettstisch, aber immerhin lockerten die Grünen nun ihre Mandatsreglung. Von 2004 bis 2013 führte sie so zusammen mit wechselnden Co-Vorsitzenden die grüne Partei – und der deutsche Bundestag blieb ihre Bühne. Seit 2013 ist Claudia Roth eine der Vizepräsidentinnen des Deutschen Bundestages.

Dass Claudia Roth nicht auch noch Ministerin geworden ist, liegt ausgerechnet an der noch merkwürdigeren Karriere einer Pfarrerstochter aus der Uckermarck. An Angela Merkel, die seit 2005 einen Wahlsieg nach dem anderen einfährt. Als Claudia Roth sich 1984 noch ganz praktisch auf der Suche nach einem wirklich alternativen Lebenentwurf befand, schrieb Angela Merkel an ihrer (komplett lebensfernen) Doktorarbeit – und diskutierte in ihrer FDJ-Gruppe an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften intensiv über Agitation und Progaganda. Fünf Jahre später war sie bereits “Kohls Mädchen” und wirkte am Rande bereits am Einigungsvertrag mit.

Was hätte aus Claudia Roth noch alles werden können? Was aus unserem Land, wenn sich Angela Merkel auch ein paar Jahre freie Liebe mit bekifften Punkrockern in den Dünen an der Ostsee gegönnt hätte? Luftlinie sind es vom nordfriesischen Fresenhagen bis nach Nordvorpommern gerade mal 350 Kilometer. Doch “Claudia Merkel” wird leider für immer ein Blogger-Traum bleiben. Die Wende kam einfach zu spät.

ZEITUNGSAUSTRÄGER SIND LEISTUNGSTRÄGER!

Mittelwertig verdient ein Zeitungszusteller 2015 rund 1.000 EUR weniger als ihm zustünde, würde auch für ihn oder sie der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 EUR gelten.

Mittelwertig verdient ein Zeitungszusteller 2015 rund 1.000 EUR weniger als ihm zustünde, wenn auch für ihn oder sie der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 EUR bereits gelten würde. Foto: verdi

Zeitungsausträger gehören meines Erachtens zu den Leistungsträger eines Zeitungsverlages. Trügen sie nicht bei Wind und Wetter frühmorgens die druckfrische Zeitung zuverlässig bis an den Briefkasten, würde heutzutage kein Mensch mehr eine Tageszeitung abonnieren – völlig egal was drinsteht. Ich weiß ganz genau wovon ich spreche, meine Mutter hat über vierzig Jahre die Badische Zeitung ausgetragen.

Trotzdem ist es der Verlegerlobby in der Diskussion um den Mindestlohn gelungen, ausgerechnet für diese Berufsgruppe eine nachteilige Ausnahmeregelung durchzusetzen. Statt einem Mindestlohn von 8,50 EUR erhalten auch erwachsene Zeitungszusteller (und Austräger von Anzeigenblättern mit redaktionellem Inhalt) bis Ende 2015 lediglich 6,38 EUR (75% von 8,50 EUR) und 2016 nur 7,23 (85% von 8,50 EUR). Erst ab 2017 erhalten Zeitungszusteller den für fast alle anderen Branchen bereits für 2015 gültigen gesetzlichen Mindestlohn. Sollte bis dahin die Mindestlohnkommission den Mindestlohn allerdings bereits erhöht haben, wird diese Erhöhung für Zeitungszusteller wiederum erst 2018 wirksam. Konkret bedeutet das, dass Zeitungszusteller mindestens weitere zwei Jahre unterhalb des gesetzlichen Mindestlohn bezahlt werden. Meiner Meinung nach ist das eine bodenlose Sauerei!

Faktisch steht euer Tageszeitungsausträger sechs Mal in der Woche um 4 Uhr für euch auf, schwingt sich gegen 4.30 Uhr bei jedem Sauwetter auf sein Fahrrad (oder nutzt auf eigene Kosten seinen PKW), fährt zum Distributionspunkt, lädt seine Zeitungspakete (und wenn er Pech hat noch ein paar Bündel nicht eingeschossene Beilagen) ein und macht sich schwer beladen auf in sein Verteilgebiet. Wir dürfen annehmen, dass seine oder ihre Arbeitszeit trotzdem erst beginnt, wenn er den ersten Briefkasten erreicht hat. Zwischen 4.45 – 6.15 Uhr steckte er oder sie – je nach Gebiet und Abodichte – zwischen 60 – 180 Zeitungen in Briefkästen und Zeitungsrollen. Im Winter ist der Zeitungsausträger zudem die ärmste Sau, er oder sie ist fast immer vor dem ersten Streudienst unterwegs.

Rechnen wir mal gegen was er oder sie aktuell dafür bekommt: 26 Tage x 1,5 Stunden x 6,38 EUR = 248,82 EUR! Das sind mittelwertig 9,57 EUR pro Einsatz. Für um 4.00 Uhr für uns aufstehen und um 6.30 Uhr wieder heimkommen. Gälte der Mindestlohn bereits , wären es übrigens auch nur 12,75 EUR – und ich gehe jede Wette ein, dass dafür kaum einer von uns auch nur um 4.00 Uhr aufstehen will.

Auf diese Weise spart der Verlag, bzw. meist dessen längst ausgegliederte Vertriebseinheit, dieses Jahr pro Monat und Austräger 82,68 EUR ein, was sich über das Jahr mithin auf fast 1.000 EUR pro Austräger summiert.

Oder, um es konkret zu sagen: Jeder Zeitungsausträger wird dieses Jahr von seinem Arbeitgeber um fast 1.000 EUR beschissen. Einfach weil ein paar Dutzend Tageszeitungsverleger für Politiker so viel wichtiger sind, als Hundertausende von anständigen Menschen, deren Wecker morgen früh wieder um 4.00 Uhr für uns klingelt.

DAS mußte ich jetzt auf jeden Fall mal loswerden.

Effektiv gegen das schlechte Gewissen hilft derzeit nur ein gelegentlicher Zehner Trinkgeld. Meine Mutter hat sich über solche Zeichen persönlicher Wertschätzung immer besonders gefreut.


Erstveröffentlicht am 26.04.2015 / mas
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ZEITUNGSAUSTRÄGER SIND LEISTUNGSTRÄGER!

Heinrich Böll – In Bonn verlief immer alles anders …

DEUTSCHLAND, DEINE DEUTSCHEN (8)

Heinrich Böll 1981

Heinrich Böll 1981, Foto: Bundesarchiv.

Heinrich Böll (geb. 1917 in Köln, gest. 1985 Kreuzau), deutscher Schriftsteller, ist für mich persönlich (Jahrgang 1966) der bedeutendste Autor der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit. Kaum ein Schriftsteller war auf seinem Zenit aktueller politisch – und Böll ist vermutlich deswegen, kaum verstorben, schnell in Vergessenheit geraten. In meiner subjektiven Reihe der bedeutenden Deutschen gebührt Heinrich Böll um so mehr ein Ehrenplatz.

Maßgeblich für den seinerzeit von Marcel Reich-Ranicki in der ZEIT übel verrissenen Roman “Gruppenbild mit Dame”(“Noch nie hat ein deutscher Klassiker so schlampig geschrieben wie diesmal Heinrich Böll”) erhielt Böll 1972 den Literatur-Nobelpreis.

Meinen ersten Böll, die “Ansichten eines Clowns”, schenkte mir Monika Goetsch (Journalistin und Autorin) im Dezember 1985, kurz nach Bölls Tod, zu Weihnachten (Danke!). Ich verschlang die tragische Geschichte vom Scheitern des so merkwürdig deutschen Mannes Hans Schnier binnen Stunden.

Böll hat mich daraufhin einige Jahre nicht mehr losgelassen, obwohl das Deutschland, das er in seinen Büchern beschrieb, für uns Spätbundesrepublikaner bereits wieder Geschichte war. Aber dem politisch Interessierten erschloss sich dank Böll diese merkwürdig katholische Bonner Nachkriegsrepublik ebenso, wie das Mienenfeld der bundesdeutschen 1970er Jahre zwischen RAF und Strauß.

Zu Ehren seiner Verdienste um die deutsche Friedensbewegung benannten die Grünen ihre politische Stiftung nach Heinrich Böll.

Rafael Seligmann – Publizist und “deutscher Jude”

DEUTSCHLAND, DEINE DEUTSCHEN (7)

Rafael Seligmann: Wir haben das Gehirn, das sollen wir benutzen.

Rafael Seligmann: Wir haben das Gehirn, das sollen wir benutzen.

Rafael Seligmann (geb. 1947 in Tel Aviv) ist deutscher Publizist, Schriftsteller, Politologe, Zeithistoriker und “deutscher Jude”. Seligmanns Eltern flohen vor dem Nazi-Terror nach Tel Aviv und kehrten 1957 “aus wirtschaftlichen Gründen” nach Deutschland (München) zurück. Als beliebter Talksshow-Gast plädiert er regelmäßig für “Normalität und Entspanntheit” – auch im deutsch-jüdischen Verhältnis.

Rafael Seligmann hat seit 1978 als Autor nicht nur für den Spiegel, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS), die taz oder die Jüdische Allgemeine geschrieben, sondern mit Vorsatz auch für Springer-Blätter wie Bild, B.Z. und Welt.

Seit 2004 ist Seligmann Chefredakteur der in Deutschland und USA erscheinenden englischsprachigen Monatszeitung The Atlantic Times. 2010 erschien seine Autobiografie “Deutschland wird dir gefallen”. 2012 gründete Seligmann die Zeitung “Jewish Voice from Germany” als enlischsprachige Brücke zwischen Deutschland und den Juden in aller Welt. Sie erscheint vierteljährlich im einer Auflage von 50.000 Exemplaren und hat Leser und Abonnenten in der ganzen Welt. Seligmann ist zudem Vorstandsmitglied des Vereins Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland.

Seligmann bezeichnet sich selbst als “deutschen Juden”, sein zentrales Thema ist das deutsch-jüdische Verhältnis diesseits des mißlungenen Schlussstrichs, mithin also unser alltägliches Miteinander hier in Deutschland.

Das deutsch-jüdische Verhältnis beschreibt Seligmann nüchtern: “Juden spielen als reale Minderheit in Deutschland kaum eine Rolle”. “Eine gesellschaftliche relvante Gruppe sind wir in Deutschland als Juden nicht mehr”. Er sieht die deutschen Juden vielmehr in der Funktion “kapitolinischer Gänse”, die “schnattern, wenn irgendwo soziale Spannungen auftreten, Minderheiten unterdrückt werden, gegen realen oder vermeintlichen Antisemitismus.”

Seligmann plädiert regelmäßig dafür “menschlich miteinander umzugehen”, für “Normalität und Entspanntheit statt empörter politischer Korrektheit”, fordert “mit dem Wissen über die Vergangenheit heute miteinander auszukommen”. “Es gibt kein elftes Gebot: Seid angspannt. Zwölftes: Seid betroffen. Sondern wir haben das Gehirn, das sollen wir benutzen. Es hat keinen Sinn in der Vergangenheit zu verharrren.”

Für Ausführungen wie diese wird Seligmann von jüdischer Seite gelegentlich als Netzbeschmutzer kritisiert. Sätze wie die folgenden könnte ein nicht-jüdischer deutscher Blogger bei aller “Entspanntheit” bis heute nicht ohne Anführungszeichen veröffentlichen.

“Der Holcaust ist geschehen, der Völkermord an den Juden. Aber die Juden leben weiter und es nützt nichts, nur an der Vergangenheit zu kleben. Für mich ist das Interessante, wie leben die Juden in Deutschland heute.”

Zum Einstieg – und als schönes Beispiel wie sympathisch Klugheit sein kann – sei dieses Interview aus der Serie “Typisch deutsch!” empfohlen:
https://www.youtube.com/watch?v=32Y-y3Jg15c

Aktuell: Phoenix-Diskussion “Die neue Intoleranz – Antisemitismus, Islamophobie, Fremdenhass” mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, 02.03.2015

Martin Luther – Reformator, Kirchenspalter und Germanist

DEUTSCHLAND, DEINE DEUTSCHEN (6)

luther_schillingMartin Luther (1483-1546, Eisleben, Sachsen-Anhalt), Mönch und Theologieprofessor, theologischer Urheber der Reformation und Mitverursacher der Kirchenspaltung. Luther ist wohl der bis dato für die Ideengeschichte der Menschheit bedeutendste Deutsche. Heute bekennen sich weltweit um die 800 Millionen Menschen zum Protestantismus, alleine 100 Millionen davon sind US-Amerikaner.

Vor allem war Luther vermutlich ein genialer, auf jeden Fall mutiger, vielleicht fanatischer Theologe. “Amore et studio elucidande veritas hec subscripta disputabuntur”, aus Liebe zur Wahrheit und in dem Bestreben, diese zu ergründen, wütet er 1517 mit seinen 95 Thesen gegen den Ablasshandel, den Zustand der katholischen Kirche, aber vor allem gegen die theologische Deutungshoheit und gottgegebene Unfehlbarkeit des Papstes.

Prompt folgte 1518 eine Anklage wegen notorischer Häresie, heute würde man sagen: fortgesetzter Meinungsfreiheit. 1520 forderte Luther erstmals, dass der Zölibat abgeschafft werden solle. 1521 wurde er schließlich exkommuniziert. Dieser Kirchenbann führte im gesamten Heiligen Römischen Reich (zu dieser Zeit noch ohne den Zusatz Deutscher Nation) automatisch zum Verlust aller Rechte (Reichsacht).

In seinem Versteck übersetzte der nun “vogelfreie” Luther 1521/22 in nur vier Monaten das gesamte Neue Testament ins Deutsche. Die erste deutsche Bibelübersetzung des verfolgten Gotteslästerers erschien dank Guttenbergs phantastischer neuer Technik 1522 tatsächlich bereits in einer gedruckten Auflage von 3.000 Exemplaren – und fand reißenden Absatz.

An der Übersetzung des Alten Testaments arbeitet Luther weitere 12 Jahre, während derer er  Ordensgelübde und Zölibatsversprechen brach, als er 1525 eine ehemalige Nonne heiratete. Kein Treppenwitz: Mit Katherina von Bora zeugte Luther sechs Kinder, derzeit sind rund 2.800 lebende Nachkommen dieser Verbindung bekannt.

Hinsichtlich unseres gemeinsamen Deutschseins, immerhin der rote Faden dieser Serie, ist Luther bei seiner Bibelübersetzung – keinesfalls nebenbei – Existenzielles gelungen: Mit unvergleichlicher Sprachgewalt schuf er die Grundlagen unseres heutigen Hochdeutsch. Wenn auch die Wirkmacht der von ihm übersetzten Inhalte allmählich nachlässt, über das von Luther inspirierte Hochdeutsch sind wir Deutsche bis heute in besonderer Weise miteinander verbunden.

Das Foto zeigt Luther auf dem Buchcover von Heinz Schillings Luther-Biografie “Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs” … das just in diesem Moment auf meine Amazon-Leseliste gefunden hat.

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Ergänzungen des Ursprungstextes / Anmerkungen

Freiheitskämpfer oder Volksverhetzer?
Seine provokative Frage “Ist eine solche vormoderne Existenz (wie Martin Luther) überhaupt jubiläumsfähig?” beantwortet Christian Geyer selbst lakonisch: “Im Ernst kann es nicht darum gehen, ob Luther heute vorzeigbar ist oder nicht. Man kommt an ihm schlicht nicht vorbei, selbst wenn man es wollte.” Da wenigstens sind wir einer Meinung.
Christian Geyer, Martin Luther – Freiheitskämpfer oder Volksverhetzer? FAZ 19.11.2014

Antijudaismus/Antimsemitismus
Bei allen Verdiensten um die Reformation und das Deutsche: Leider ist der späte Martin Luther ein erschreckendes Beispiel christlicher Judenfeindschaft, wie
Margot Käßmann in einem Gastbeitrag für die FAZ zu Recht anmerkte.
M. Käßmann – Die dunkle Seite der Reformation, FAZ 01.04.2014