„MenschenRechte!“ – histoire engagée in einer Lesung über Widerstand und Überleben

„MenschenRechte! Vom Widerstand und Neubeginnen“, lautete der Titel einer Veranstaltung, zu der die BUXUS STIFTUNG am 15. Februar 2017 in die Westtorhalle in Seehausen-Riedhausen bei Murnau am Staffelsee eingeladen hatte.[i] Schwerpunktmäßig ging es um ein gut erforschtes zeithistorisches Sujet, Widerstand und Überleben in der Zeit des Nationalsozialismus, doch war diese Thematik nicht Gegenstand eines gelehrten Vortrags, sondern sie wurde dem Publikum in Form einer historisch-literarischen Lesung vermittelt. Das Skript dazu hatte die Historikerin Irmtrud Wojak verfasst. Ihr Textprogramm aus Quellenauszügen, einordnenden Erläuterungen und gegenwartsbezogenen Reflexionen trug sie selbst im Wechsel mit dem Schauspieler und Sprecher Christian Jungwirth vor.

Das Recht auf Widerstand und der Kampf für Humanismus und Menschenrechte waren für den ersten Protagonisten des Abends, den als Initiator des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses in den 1960er Jahren bekannt gewordenen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, durchaus eng miteinander verbunden: „Widerstand ist der Aufwand unseres Mitgefühls, das Kämpfen und – wie die Geschichte nur zu oft zeigte – auch ein Fallen für eine humanistische Welt“, beschloss er 1968 seinen Vortrag über „Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart“.[ii] Ausführlicher zitiert wurde an dem Abend allerdings nicht aus dieser letzten großen Ansprache Bauers, die er auf Einladung der Humanistischen Union in München gehalten hatte, sondern aus einer Gedenkrede anlässlich des Geburtstags von Anne Frank aus dem Jahr 1963. Darin beschäftigte er sich zum einen kritisch mit der geringen Bereitschaft seiner bundesdeutschen Zeitgenossen, sich mit der NS-Vergangenheit gesellschaftlich wie juristisch auseinanderzusetzen. Zum anderen ging Bauer, der als Sozialdemokrat mit jüdischem Elternhaus selbst als Verfolgter in Skandinavien hatte Zuflucht suchen müssen, äußerst gedankenreich und einfühlsam auf Franks Tagebuchtext ein. Denn für ihn war das Mädchen Anne Frank ein Symbol für „die Verfolgten, die Unglücklichen, wo immer sie lebten und leben, litten und leiden, starben und sterben, weil der Staat Unrecht tut oder duldet“.[iii]

Auf Bauers Ausführungen folgten an dem Abend Ausschnitte dreier retrospektiver Selbstzeugnisse, bei denen das widerständige Überleben im Konzentrationslager aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln thematisiert wurde. So gehörte die Wiener Ärztin Ella Lingens, die 1963 auch als Zeugin im ersten Auschwitz-Prozess aussagte, in der NS-Lagerhierarchie als so genannte „Arierin“ zu den privilegierten Häftlingen. Dennoch entschied sie sich dagegen, zur Kollaborateurin des Unrechts zu werden und setzte sich u. a. auch für eine junge Frau ein, der der Abtransport zum Tod in den Gaskammern drohte. Wenngleich die zunächst gerettete Frau Lejmann später doch einer Tbc-Erkrankung erlag, kam Lingens in ihrem Buch Gefangene der Angst dennoch zu folgendem zutiefst humanistischen Resümee: „Trotzdem: Manchmal muss man Dinge um ihrer selbst willen unternehmen – ohne Rücksicht auf ihren Erfolg.“[iv]

Ella Lingens gelang es, sich selbst in Auschwitz nicht ihre Ehre und Selbstachtung rauben zu lassen. Der 1924 geborene Jacques Lusseyran, der als Kind schon erblindet war, aber dennoch an der Sorbonne studierte und später sogar Literaturprofessor wurde, lernte im Konzentrationslager Buchenwald den Mithäftling Jérémie Regard kennen – eigentlich ein einfacher Schmied, der aber im Lager „Sokrates“ genannt wurde. Wie Lusseyran in seinem Buch Das wiedergefundene Licht schildert, lehrte „Sokrates“ ihn und seine Mithäftlinge, selbst in der lebensfeindlichen KZ-Umwelt zwischenmenschliche Alltäglichkeit zu erhalten und so trotz allen Leidens Momente der Freude miteinander teilen zu können: „Er sagte, im normalen Leben hätten wir mit guten Augen dieselben Schrecken gesehen. Früher sei es ja auch möglich gewesen, glücklich zu sein. Jetzt hätten uns die Nazis ein schreckliches Mikroskop in die Hand gegeben: das Lager. Das sei kein Grund, das Leben aufzugeben.
Jérémie ging mit gutem Beispiel voran: Mitten im Block 57 fand er Freude. Er fand sie zu den Zeiten des Tages, in denen wir nur Angst empfanden. Und er fand sie in so reichem Maße, dass wir sie, wenn er anwesend war, in uns aufsteigen spürten. Und dass Freude uns erfüllte, dass war in unserer Lage ein unerklärliches, ja unglaubhaftes Gefühl.
Welche ein Geschenk war das, was uns Jérémie machte! Man verstand zwar nicht, aber man war ihm dankbar, immer wieder dankbar.“[v]

Widerständiges Überleben als Lebensbejahung – darüber machte sich auch der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl in seinen Erinnerungen unter dem Titel …trotzdem Ja zum Leben sagen Gedanken. Frankl hatte die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz überlebt, aber im Holocaust seine junge Frau und fast seine ganze Familie verloren. Er veröffentlichte 1946 eine autobiographische Schrift, um zu zeigen, dass „das Leben unter allen – selbst unter den schlimmsten – Umständen einen potentiellen Sinn hat.“[vi] Dieser entfaltet sich für Frankl in einem menschlichen Akt der bewussten Entscheidung:
„Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat; aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist, aufrecht und ein Gebet auf den Lippen.“[vii]

 

Tiefsinnige Denkanstöße des Abends ergaben sich so aus der Auseinandersetzung mit der Erinnerungsliteratur von Holocaust-Überlebenden; zugleich wollte die Lesung offenkundig auch zu zeitübergreifenden Einsichten anregen. Das wurde insofern deutlich, als mit Karoline Mayer eine Stimme des chilenischen Widerstands gegen das Pinochet-Regime der 1980er Jahre, des Movimiento Contra la Tortura Sebastián Acevedo, zu Wort kam.[viii] Und schließlich war es Irmtrud Wojak selbst, die in ihren eigenen Ausführungen immer wieder den Bogen bis zur Gegenwart spannte, so etwa im Schlussteil des Abends:
„Was wir tun können? Von Fritz Bauer und den Widerstandskämpferinnen und -kämpfern aller Zeiten können wir lernen, das Kritik und Opposition das Lebensprinzip der Demokratie ist, ja, dass Demokratie zum Widerstand geradezu einlädt. Demokratie fordert die kämpferische Auseinandersetzung über die ihr eingelagerten Gegensätze in allen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens.“
Zweifellos ist es ein weitreichender Anspruch an einen „stets und ständig“ zu übenden „Widerstandsgeist“, den Wojak formulierte. Der Abend war aber offensichtlich darauf angelegt, keine fertigen Antworten zu liefern, sondern vor allem kritische Denkanstöße zu geben, so auch Anregungen für das Infragestellen des Vorgetragenen selbst. Die Beschäftigung mit der Geschichte des Widerstands gegen Menschenrechtsverletzungen präsentierte sich nicht als gelehrter Selbstzweck, sondern als Anregungspotential für eigenständige gegenwartsrelevante Gedanken der Zuhörer.

Das Publikum in der gut besuchten Westtorhalle spendete am Ende der Lesung den beiden Vortragenden viel Beifall – ganz offensichtlich war die Veranstaltung trotz ihrer durchaus schwierigen inhaltlichen Kost nicht zuletzt aufgrund ihrer Vermittlungsform als kommentierte Lesung gut angekommen. Denn der Wechsel zwischen den erläuternden Ausführungen aus der intellektuellen Perspektive der Wissenschaftlerin Irmtrud Wojak und dem eindringlichen Vortrag von Quellenausschnitten, die in ihrer gedanklichen Tiefe durch den Sprecher Christian Jungwirth wirkungsvoll zur Geltung gebracht wurden, erzeugte eine fruchtbare Spannung, die auch über neunzig Minuten im Publikum spürbar erhalten blieb.

Insofern bleibt zu hoffen, dass die vor vier Jahren gegründete BUXUS STIFTUNG bei ihrem Anliegen, „Geschichte neu zu denken“ und damit verstärkt in die Öffentlichkeit hinein zu wirken, sich künftig öfter dieser oder anderer offener Vermittlungsformen bei ihren Veranstaltungen bedient. Denn in der steppenähnlichen Landschaft der bundesdeutschen Geschichtsvermittlung wäre es sicher erfrischend, wenn neue Akteurinnen und Akteure von den angestammten, oft eher wenig engagierten Wegen der Diskussion und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse abwichen, die von der herrschenden„historischen Zunft“ der Bundesrepublik in ihrer traditionellen Elfenbeinorientierung gepflegt werden.

 

Anmerkungen:

[i] http://www.buxus-stiftung.de/images/download/MenschenRechte_15-02-2017.pdf

[ii] Fritz Bauer, Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart [Vortrag an der LMU München auf Einladung der Humanistischen Union, gehalten am 21.6.1968], in: vorgänge 7 (1968), H. 8/9, S. 286-292, hier S. 292 (Online abrufbar unter: http://www.humanistische-union.de/nc/wir_ueber_uns/geschichte/geschichtedetail/back/geschichte/article/ungehorsam-und-widerstand-in-geschichte-und-gegenwart/).

[iii] Fritz Bauer, Lebendige Vergangenheit [Gedenkrede zum 34. Geburtstag von Anne Frank], in: vorgänge 2 (1963), H.7, S. 197-200.

[iv] Ella Lingens, Gefangene der Angst. Ein Leben im Zeichen des Widerstandes, Wien 2003.

[v] Jacques Lusseyron, Das wiedergefundene Licht, Stuttgart 1966.

[vi] Viktor Frankl, …trotzdem Ja zum Leben sagen. Drei Vorträge, Wien 1946.

[vii] Ebd.

[viii] Karoline Mayer, Das Geheimnis ist immer die Liebe, Freiburg 2006.

Diese Blog-Artikel erschien erstmals im Februar 2017 auf der Webseite der Buxus-Stiftung. Alle Tweets über die Veranstaltung finden sich unter #MenschenRechte! oder direkt auf dem Twitter-Account der BUXUS STIFTUNG (https://twitter.com/BUXUSSTIFTUNG).