„Lockdown light“ oder: Die Dialektik des Spätmerkelismus

Nach drei Wochen „Lockdown light“ fällt die Bilanz in Deutschland ernüchternd aus. Der Anstieg der Neuinfektionszahlen scheint zwar gebremst, verharrt aber weiter auf hohem Niveau. Am Freitag vermeldete das Robert-Koch-Institut (RKI) sogar einen absoluten Höchststand mit mehr als 23600 Corona-Neuinfizierten binnen 24 Stunden.[1] Der Inzidenzwert für Deutschland ist gegenüber dem Peak der vorigen Woche (159) leicht gesunken und beläuft sich heute auf 154. An der Spitze der Bundesländer liegt weiterhin die Hauptstadt Berlin mit einem Wert von 250 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner in einer Woche, gefolgt von Sachsen (212), das seit zwei Wochen nun Bayern (187), Hessen (181) und Nordrhein-Westfalen (172) als Pandemie-Hotspot unter den Flächenländern übertrifft. Den mit dem Lockdown eigentlich republikweit wieder angepeilten Inzidenz-Grenzwert von 50 unterschreiten knapp Schleswig-Holstein (49) und Mecklenburg-Vorpommern (47).[2]


Drei Wochen Einschränkungen ohne echte Trendumkehr: die Ineffizienz des „Lockdown light“

Damit wird offensichtlich, wovor Kritiker bereits bei Verkündung des Maßnahmenkatalogs Ende Oktober gewarnt hatten: Der beschlossene „Lockdown light“ reicht angesichts des Ernstes der Lage nicht aus. Er entpuppt sich so als teure, ineffiziente Maßnahme zur Pandemiebekämpfung. Verwiesen wird hier auf das Beispiel Israel, das bereits im Sommer von der zweiten Welle getroffen worden war. Auch der Regierung in Jerusalem misslang es mit einem „Lockdown light“ im Juli und August, den Anstieg der Neuninfektionen nachhaltig zu stoppen – das wurde erst im Oktober nach einem vierwöchigen harten Shutdown des Landes erreicht, der auch den Bildungsbereich nicht ausnahm.[3]


Wunsch und Wirklichkeit in seuchengeplagten Schulen

Über die Rolle der Schulen im Infektionsgeschehen ist hierzulande bereits seit Ende des ersten Lockdowns ein erbitterter Streit entbrannt. Und wie so oft bei Debatten über schulpolitische Themen entwickelte sich aus einer Kontroverse alsbald eine Art föderal getriggerter Kultus-Glaubenskampf, in dessen Verlauf die eigentliche Problemlage und die dazugehörige Faktenbasis immer mehr aus den Augen verloren wurden. Nichtsdestotrotz hat RKI-Präsident Lothar Wieler in der vorigen Woche ausdrücklich noch einmal betont, es sei aus medizinischer Sicht nicht in Abrede zu stellen, dass auch Kinder und Jugendliche bei der Dynamik des Infektionsgeschehens eine ernstzunehmende Rolle spielen.

Wieler zufolge haben ältere Schulkinder und Jugendliche zwar in der Regel ein geringeres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf nach einer Corona-Infektion. Doch geben sie offenbar durchaus das Virus sowohl untereinander wie auch an Erwachsene weiter. Lediglich bei kleinen Kindern geht die Forschung überwiegend davon aus, dass Covid-19 nicht nur milder verläuft, sondern das Virus auch weniger selten auf andere übertragen wird.

Infolgedessen dürften schulpflichtige Kinder und Jugendliche zu den bedenklich hohen Neuinfektionszahlen durchaus substanziell beigetragen haben.[4] Und insofern können die Schulen dann auch keineswegs, nur weil sich das einige Kultusminister so wünschen, als „sichere Orte“ gelten. Wie alle geschlossenen Räume, an denen sich viele Menschen auf wenig Fläche versammeln, sind Klassenzimmer in Zeiten hoher Neuinfektionsraten eher unsicher, was insbesondere für alle potenziellen Risikopatienten aus dem Schulbereich besorgniserregend sein muss – seien es nun Asthmatiker unter den Schülern oder aber Bluthochdruckpatienten unter den Lehrkräften, von denen dazu jede Achte bereits in ihrem siebten Lebensjahrzehnt steht.[5] Je virulenter Covid-19 in der Bevölkerung ist, desto unwahrscheinlicher wird es, dass allein das Einhalten von AHAL-Regeln ausreicht, um eine sich auch in den Schulen beschleunigende Virenverbreitung zu unterbinden. Dafür spricht auch, dass gerade in den letzten Wochen die Zahl der Schüler*innen und Lehrer*innen, die als neu infiziert gemeldet wurden, erheblich gestiegen ist.[6]


Zweihundert Corona-Tote täglich – nehmen wir das wirklich in Kauf?

Nun könnte man meinen, dass es sich ein reiches Land wie die Bundesrepublik doch leisten kann, die zwar etwas ineffiziente und teure, dafür aber kommodere Schutzmaßnahme eines Lockdown in der Lightversion zu wählen. Schließlich steigen ja immerhin die Infektionszahlen nicht mehr an. Wenn man nun einfach einen solchen, ggf. leicht modifizierten Komfort-Teillockdown eine Weile verlängert, könnten wir wohl auch ganz allmählich noch einen Neuinfektions-Rückgang im Dezembers erreichen und so dann schließlich sogar die Gefahr bannen, dass uns in der zweiten Welle ein ähnliches Schicksal wie die noch reichere Schweiz droht. Dort sind nämlich nach wochenlangen Inzidenzwerten von über 500 inzwischen die Intensivstationen am Ende ihrer Kapazitäten angelangt und können Behandlungsplätze nur noch an Patienten mit guter Heilungssaussicht vergeben.[7]

Doch auch wenn wir in Deutschlands Krankenhäusern die gefürchtete Triage vermeiden, fällt es beim Blick auf die über Wochen stetig gestiegenen Zahlen der täglichen Todesopfer schwer, unsere derzeitige Pandemiestrategie noch als human zu bezeichnen. Vielmehr ist das Resultat des „Lockdowns light“ in seiner Ineffizienz schlichtweg grausam. Schon in der ersten Welle waren fast 9000 Menschen in Deutschland gestorben – hier traf uns aber die Ausbreitung des Virus relativ unvorbereitet und ohne viel Vorwissen. Die zweite Welle hat bereits jetzt rund 3000 Todesopfer gefordert, und jeden Tag kommen momentan über 200 Coronatote dazu. Bis Weihnachten könnten also beim Festhalten am „Lockdown light“ über 8000 Menschen der zweiten Welle zum Opfer gefallen sein.

Noch größer ist dann voraussichtlich bis zum Jahresende die Zahl derjenigen, die eine Corona-Infektion zwar überleben, aber aufgrund eines schweren Krankheitsverlaufs von gravierenden Folgeerscheinungen beeinträchtigt bleiben. Denn seit Wochen ist auch die Zahl der Patienten stetig gewachsen, die wegen Corona im Krankenhaus auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Am Freitag waren dies in Deutschland 3615 Fälle – Tendenz auch jetzt immer noch steigend.

Der Grund dafür, dass trotz stagnierender Neuinfektionen die Zahl der schwer Erkrankten sowie der Corona-Opfer weiter wächst, liegt vor allem darin, dass sich inzwischen wieder mehr ältere Menschen mit Covid-19 anstecken. Es zeigt sich, dass der Schutz der Risikogruppen eben nur funktioniert, solange das Neuinfektionsgeschehen noch unter Kontrolle ist. Das war aber in Deutschland schon Wochen vor dem “Lockdown light” nicht mehr der Fall. Wenn wir bei 10.000 oder gar 20.000 neu Infizierten pro Tag angelangt sind, vermögen sich Risikogruppenangehörige nicht mehr ausreichend zu schützen, da sie ihre Außenkontakte ja nun einmal nicht auf Null über Wochen reduzieren können. Für sie alle – in Deutschland immerhin gut ein Drittel der Bevölkerung[8] – gleicht der Herbst in Deutschland mit seiner hohen Virenverbreitung so einem täglichen Lotteriespiel mit ihrer Gesundheit oder gar ihrem Leben. Und wer in den letzten Wochen in die hinter FFP2-Masken hervorschauenden besorgten Gesichter alter Menschen geblickt hat, die hastig im Supermarkt ihre Einkäufe erledigen, weiß, dass nicht wenige von ihnen tagtäglich um ihre Gesundheit bangen.


„Light“-Mutlosigkeit – ein stiller Erfolg der lärmenden „Querdenker“

Die Angst dieser Menschen ist real und medizinisch betrachtet leider durchaus begründet, im Gegensatz zu der sozialmedial getriggerten Hysterie gegen Pandemieschutzmaßnahmen, welche die rechtsunterwanderten „Querdenker“ kultivieren. Tragenden Teilen dieser Bewegung – Identitäre, Reichsbürger, evangelikale Fundamentalisten – ist beinahe jedes Mittel recht, um unsere offene Gesellschaft zu diskreditieren. Ihre Ideologie ist antidemokratisch und menschengruppenfeindlich. In der Flüchtlingskrise befeuerten sie die Pegida-Hetze, während der Pandemie setzen sie sich nun an die Spitze der Corona-Leugner. Trump und Bolsonaro, ihrer Idole auf nord- und südamerikanischen Präsidentensesseln, haben es vorgemacht: Rechtspopulisten sind in ihrer verbohrten Gewissenlosigkeit sogar bereit, in Seuchenzeiten über hundertausende Leichen zu gehen, wenn sich daraus politisches Kapital schlagen lässt.

In Deutschland ist der Rechtspopulismus zwar politisch noch weitgehend isoliert, aber dennoch scheint es so, wie wenn die Strategie der von ihm orchestrierten „Querdenker“ insofern teilweise aufgeht, als deren lautstark inszenierter Protest in der Öffentlichkeit mehr Gehör findet als die stillen Nöte von Millionen potenzieller Corona-Risikopatienten. Denn letztendlich ist der „Lockdown light“ das Ergebnis eines zähen Ringens der Länderchefs mit dem Kanzleramt gewesen, bei dem offensichtlich die Scheu vor allzu großen Unannehmlichkeiten, die mehrwöchige härtere Einschränkungen den Jungen und Gesunden bereitet hätten, am Ende die Oberhand behielt. Vernachlässigt wurden hingegen die Sorgen von Alten und Kranken, deren Leben bei einer halbherzigen Bekämpfung der Pandemie auf dem Spiel steht.

Sicherlich bestand Ende Oktober zunächst noch eine vage Hoffnung, dass vielleicht doch auch die beschlossenen „Light“-Maßnahmen ausreichen könnten. Wenn man sich bei der Bekämpfung der Pandemie aber tatsächlich nur darauf beschränkt, den Kollaps der Kliniken verhindern zu wollen, ist das zwar besser als das Trumpsche Corona-Verharmlosen und insofern kein staatsverbrecherisches Versagen, was in den USA wohl über Hunderttausend Menschenleben zusätzlich gekostet hat. Aber dennoch ist es eine moralisch sehr zweifelhafte Strategie, denn sie nimmt über Wochen oder gar Monate Tote und schwer Erkrankte zusätzlich in Kauf, die mit einem kürzeren harten zweiten Lockdown vermieden werden könnten. Oder darf man ernsthaft einen solchen bitteren Preis der Großelterngeneration dafür abverlangen, dass der Präsenzunterricht der Schüler und die Erwerbstätigkeit der Eltern möglichst störungsfrei am Laufen gehalten werden?

 

Durchwurschteln durch die Coronakrise im GroKo-Style: Kritik der Dialektik des Spätmerkelismus

Das Bild, das Deutschland in der Corona-Krise im internationalen Vergleich abgibt, führt uns noch einmal die Stärken und Schwächen des Merkelismus am Ende seiner Ära vor Augen: Einerseits ist das Land im Vergleich zu europäischen Nachbarn relativ gut durch die Pandemie gekommen, weil die Kanzlerin mit gewohnt kühler Logik, gesundem Menschenverstand und einem offenen Ohr für den Rat medizinischer Experten sich um nüchtern-sachliche Krisenpolitik bemüht hat. Andererseits mangelte es aber, wie so oft bei Angela Merkel, an einer Einbettung des Regierungshandelns in einen größeren gedanklichen Kontext, der die Coronapolitik in der demokratischen Öffentlichkeit leichter vermittelbar gemacht hätte. Anfangs waren Merkels pragmatischer Zugriff sowie die Abstimmung mit den Ländern in Online-Runden sicher noch sachgerecht. Die Zeit drängte, und für weiter vorausschauendes Handeln lag einfach noch zu wenig gesichertes Wissen vor. Doch spätestens im Sommer wäre es trotz aller immer noch vorhandenen Unwägbarkeiten dann angestanden, eine längerfristige Strategie zu entwerfen und breitenwirksam zu kommunizieren. Stattdessen blieb es aber beim „Fahren auf Sicht“.[9]

Der GroKo-Style, dieses altbekannte, vorzugsweise auf die „Alternativlosigkeit“ der „Sachzwänge“ gestützte, kompromiss- und konsensorientierte „Durchwurschteln“, fand also auch beim Umgang mit der Pandemie wieder Anwendung, wenngleich die Kanzlerin gelegentlich etwas strenger als gewohnt die Beratungsrunden mit den Länderchefs zu moderieren schien. Dennoch bereitete dieser Framing-arme politische Stil wie gehabt den Rechtspopulisten den Boden: Denn die Visionslosigkeit des Regierungshandelns sowie das damit verbundene Kommunikationsdefizit ließen auch diesmal wieder Leerstellen im politischen Diskurs zurück, die die Rechtspopulisten auf ihre Art ausnutzen konnten. Diesmal ermöglichten die Diskurslücken den rasanten Aufstieg der kruden „Querdenker-Bewegung“. Denn dass auch die absurdesten Coronaleugner-Verschwörungstheorien so erstaunlich viel Resonanz in den sozialen Medien und auf Protestkundgebungen finden konnten, lag wohl auch daran, dass auf Regierungsseite eben kein griffiges visionäres Rahmenkonzept für eine verantwortungsvolle Bewältigung der Pandemie vermittelt worden war. Merkels gut gemeinte, aber zunehmend sich abnutzenden Podcast-Appelle konnten diese Lücke nicht ausreichend schließen.

Während zu Beginn der ersten Welle noch spürbar war, dass große Teile der Bevölkerung die einschneidenden Maßnahmen der Kontaktbeschränkungen im Lockdown mittrugen, ebbte so die Bereitschaft, sich Pandemie-vorbeugend zu verhalten und Einschränkungen weiter in Kauf zunehmen, seit dem Frühsommer zunehmend ab. Hätte man aber frühzeitiger mit Debattierlust und Überzeugungskunst die Bevölkerung auf eine vorausschauendere Pandemiestrategie des langen Atems eingeschworen, wäre Deutschland sicherlich nicht so stark von der zweiten Welle erfasst worden, wie das aktuell der Fall ist.


„The UK needs a sustainable strategy for COVID-19“ – and so do we!

Nötig ist deshalb jetzt ein Strategiewechsel, der zunächst die Neuinfektionszahlen rasch senkt und dann den Fokus auf vorbeugende Maßnahmen sowie ein frühzeitiges Eingreifen bei neuerlichen Verschlechterungen der Situation legt. Angelehnt sein könnte dieses neue Gesamtkonzept an Vorschlägen für eine „nachhaltige Covid-19-Strategie“, die eine Autorengruppe für Großbritannien kürzlich empfohlen hat.[10]

Zunächst ist aber für mehrere Wochen eine Verschärfung des zweiten Lockdowns unumgänglich. Privatkontakte müssen noch stärker auf das Notwendigste eingeschränkt werden, die Erwerbsarbeit sollte wo immer möglich im Home Office stattfinden und auch in den Schulen muss der Wechsel zwischen Präsenz- und Distanzunterricht zumindest für ältere Schüler zum Regelfall werden. Wenn dann die Inzidenzwerte deutschlandweit unter die vorgesehenen Warnstufen wieder gefallen sind, sollte künftig frühzeitig reagiert werden, sobald es zu neuerlichen Anstiegen kommt – die ursprünglichen Warnwerte von 35 (gelb) und 50 (rot) müssen in Verbindung mit verbindlichen Kontakteinschränkungen bei ihrem Überschreiten in Kraft treten.

Um zu erreichen, dass Gesundheitsschutz und Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens auch in diesem Pandemiewinter in eine verantwortungsvolle Balance gebracht werden, könnte es helfen, sich von neuen Ideen und oder bereits bewährten Praktiken aus dem Ausland anregen zu lassen[11] – hier vier konkrete Vorschläge:

  1. Zur Verbesserung der Nachverfolgung von Infektionsketten hilft, wie ostasiatische Länder es vormachen, das digitale Tracking. Deshalb sollte eine erhebliche Steigerung der Verbreitung der Corona-Warn-App erreicht werden, die in Deutschland gerade mal von etwas mehr als 22 Millionen Menschen genutzt wird.[12] Vorschläge, wie die App attraktiver gestaltet werden kann, gibt es bereits seit einer Weile – es hapert nur an ihrer Umsetzung. Ebenso fehlt bislang eine große, öffentlichkeitswirksame Werbekampagne. Ergänzend zur App gibt es auch Vorschläge, wie ältere Menschen, die kein Smartphone haben, in das digitale Tracking-System einbezogen werden können.[13] Wenn aber nicht nur, wie derzeit, rund dreißig Prozent die Corona-App nutzen, sondern mehr als sechzig Prozent, könnte mithilfe einer effektiven Nachverfolgung der Neuinfektionen und rechtzeitiger Selbstquarantäne der Kontaktpersonen eine weitere Infektionswelle in diesem Winter wohl verhindert werden. Wieso sollte eine deutlich höhere App-Nutzungsquote in Deutschland eigentlich nicht zu schaffen sein, wo doch der Anteil der „Querdenker“-Sympathisanten in der Bevölkerung eigentlich nur bei zwölf Prozent liegt?[14] Und wenn nun schon fast alle Schüler ein Smartphone besitzen, warum ist die Nutzung der Corona-App in allen offen gehaltenen Schulen nicht einfach Ehrensache?
  2. Schnelltests sind mit unterschiedlichem Erfolg in vielen Ländern bereits eingesetzt worden. Ob eine Massen-Schnelltest-Strategie, wie sie in Südtirol, der Slowakei und nun voraussichtlich auch bald in Österreich zur Anwendung kommt, auch in Deutschland einen harten Lockdown ersetzen oder verkürzen könnte, wird kontrovers diskutiert.[15] In jedem Fall kann der vermehrte Einsatz von Schnelltests aber auch in Deutschland helfen, örtlich oder regional begrenzte neue Ausbrüche besser unter Kontrolle zu bekommen, Quarantäne-Zeiten abzukürzen und Risikogruppen besser zu schützen. Warum wird z.B. nicht in den Schulen für mehr Gesundheitsschutz mithilfe eines häufigeren Einsatzes von Antigen-Tests gesorgt? Denn bei Infektionsfällen könnte man die Quarantänezeiten für betroffene Klassen und ihre Lehrkräfte so minimieren. Stattdessen wurden angesichts gestiegener Infektionszahlen aber nun vielerorts in fragwürdiger Weise die Schutzbestimmungen maximal gelockert und nur noch infizierte Schüler sowie ihre Banknachbarn in Quarantäne geschickt.[16]
  3. Zu einer vorausschauenden Strategie gehört auch, ein Konzept bereit zu halten, das zum Einsatz kommt, wenn trotz aller Bemühungen die Infektionszahlen wieder die Deutschlandkarte in Gelb und Rot einfärben. Dann muss diesmal überlegter und entschlossener gehandelt werden. Es sollte deshalb in Präventionsplanungen bereits erwogen werden, bei einem nochmaligen Wellenbrecher-Shutdown zeitweise Schulschließungen dadurch zu ermöglichen, dass Teile der verbleibenden Ferienzeiten umgelegt werden. Was spricht beispielsweise dagegen, die Oster- und Pfingstferien notfalls um je eine Woche zu verkürzen, um so noch im Verlauf des Winters ggf. zwei Ferienwochen für einen wirksamen Wellenbrecher-Shutdown mit geschlossenen Schulen einsetzen zu können? Sicherlich ist dagegen mit dem Widerspruch der Tourismusbranche zu rechnen, die deshalb bei Lockdown-Verlusten weiterhin Hilfen erhalten muss. Den Lehrkräften dürfte eine solche, auch ihre Gesundheit schützende Coronaferien-Regelung im Zweifelsfall lieber sein als der derzeitige Präsenzunterrichts trotz hoher Inzidenzzahlen.
  4. Schließlich sollte die Pandemiekrise noch offensiver als bisher dafür genutzt werden, um anstehende Umgestaltungen und Modernisierungsmöglichkeiten der Lern- und Arbeitswelt mittels Digitalisierung voranzutreiben. Hier hinkt Deutschland hinterher, aber einiges ließe sich unter Ausnutzung des anhaltenden Handlungsdrucks noch zügiger verändern. Denn viele Arbeitnehmer werden auch nach Corona dankbar sein, wenn Home Office eine feste Alternative zur Anwesenheit im Büro bleibt. Arbeitgeber sparen dauerhaft Ausgaben, wenn Meetings virtuell ohne Kosten und Zeitverlust durch Anreisen abgehalten werden. Und jeder jetzt noch unternommene Schritt zu mehr Digitalisierung der Schulen zahlt sich als Modernisierung der Bildung langfristig aus. Staatliche Investitionen müssen hier aber nicht nur angekündigt, sondern die Anschaffung dann auch möglichst rasch getätigt werden – etwa Tablets für Schulklassen oder Dienstlaptops für Lehrkräfte.


Wie wir die Dialektik des Spätmerkelismus überwinden können

Dass Covid-19 uns auch noch im Jahr 2021 länger beschäftigen wird, ist absehbar. Aber erfreulicherweise ist in Europa nun wohl in Kürze der erste Impfstoff zugelassen, so dass vielleicht schon in wenigen Wochen mit Impfungen begonnen wird. Auch wenn eine durch Impfstoffe erzielte Herdenimmunität in der Bevölkerung wohl erst im späteren Verlauf des nächsten Jahres die Situation grundlegend verändern kann, ist das Ende der Krise nun endlich in Sicht. Diese früher als erwartete Aufhellung des Horizonts sollte es eigentlich erleichtern, eine vorausschauende, durchdachte Strategie der Bevölkerung zu vermitteln, auch wenn damit weiterhin erst einmal Einschränkungen verbunden sind. Die Regierung sollte sich hierzu mit Experten nochmals abstimmen und dann einen schlüssigen Plan zügig zur Diskussion zu stellen.

Eine humane Gesamtstrategie muss dabei den wirksamen Schutz der gesamten Bevölkerung zum Ziel haben. Es darf nicht weiterhin der Eindruck bestehen, dass der störungsarme Weiterbetrieb der Wirtschaft und das Offenhalten der Schulen mit einem Art Überlebens-Lotteriespiel der Alten und Kranken bezahlt wird.

Eine erfolgreiche Pandemiestrategie lebt in einem demokratischen Staat von der Bereitschaft, sich daran freiwillig zu beteiligen. Rigorose staatliche Zwangsmaßnahmen wie in China werden in Deutschland nicht zum Ziel führen – dann hätten wir unsere Rechte wirklich zugunsten einer „Corona-Diktatur“ aufgegeben, von der sich „Querdenker“ offenbar schon beim korrekten Aufziehen einer Mund-Nasen-Bedeckung geknebelt glauben.

Widerspruch oder Protest sollten Ansporn sein, die Pandemiestrategie im Parlament oder bei öffentlichen Auftritten besser zu begründen. Aber auch wenn wir die hartnäckige Corona-Leugner-Szene nicht erreichen, wird es maßgeblich darauf ankommen, möglichst viele Menschen mithilfe eines überzeugend vermittelten Gesamtkonzepts dafür zu motivieren, sich aktiv an einer humanen und solidarischen Pandemiebekämpfung zu beteiligen. Denn nur so können wir diese Strategie 2021 gemeinsam zum Erfolg führen.


Anmerkungen:

[1] Mehr als 23.600 Corona-Neuinfektionen, tagesschau.de vom 20.11.2020, https://www.tagesschau.de/inland/rki-neuinfektionen-rekord-103.html.

[2] Die Inzidenzzahlen sind entnommen aus dem Coronavirus-Monitor der Berliner Morgenpost (Stand 22.11.2020, 14 Uhr): https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit. Als Datenquelle werden hier angegeben: Johns Hopkins University CSSE (internationale Daten von WHO, CDC (USA), ECDC (Europa), NHC, DXY (China), Risklayer/Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Meldungen der französischen Ämter und der deutschen Behörden (RKI sowie Landes- und Kreisgesundheitsbehörden).

[3] Wie Israel die Infektionsrate drastisch senkte, in: Der Tagesspiegel 29.10.2020, https://www.tagesspiegel.de/politik/von-9000-auf-1000-wie-israel-die-infektionsrate-drastisch-senkte/26572386.html.

[4] Davon geht auch eine in „Science“ kürzlich veröffentlichte Studie aus, über die der Tagesspiegel am 2. Oktober berichtete: Kinder und junge Erwachsene treiben die Covid-19-Pandemie, https://www.tagesspiegel.de/wissen/kinder-sind-sehr-effiziente-uebertraeger-kinder-und-junge-erwachsene-treiben-die-covid-19-pandemie/26236846.html?fbclid=IwAR0a-6d-3FdKw81-i7kjq65SAW6oG0T8zG96EPLJsLpu5JddspbBPpG-G4o.

[5] So die Zahlen des statistischen Bundesamt zum vergangenen Schuljahr: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Schulen/Tabellen/allgemeinbildende-lehrkraefte-altebundeslaender.html.

[6] Zahl der Infektionen an Schulen nimmt stark zu, in: Der Spiegel 6.11.2020, https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/coronavirus-zahl-der-infektionen-an-schulen-nimmt-stark-zu-a-f6d60280-6d53-4755-976c-0d9f1177e471-amp?__twitter_impression=true.

[7] Alle Intensivbetten voll: Jetzt bezahlt die Schweiz den Preis für ihren Sonderweg, in: Focus 22.11.2020, https://www.focus.de/politik/ausland/mediziner-schlagen-alarm-intensivbetten-voll-jetzt-bezahlt-die-schweiz-den-preis-fuer-ihren-sonderweg_id_12676385.html.

[8] Spahn: 30 bis 40 Prozent sind Risikogruppe, in: zdfheute 9.11.2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-spahn-risikogruppen-100.html.

[9] Einen ausführlicherer Rückblick auf Deutschlands Umgang mit der Pandemie im Frühjahr und Sommer habe ich in meinem letzten Blogbeitrag vom 27.10.2020 gegeben.

[10] Deepti Gurdasani u.a.: The UK needs a sustainable strategy for COVID-19, in: The Lancelet 9.11.2020, https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32350-3. Vgl. auch das Interview mit der Göttinger Mitautorin des Papiers, Viola Priesemann, das in der Berliner Zeitung unter dem Titel „Forscherin zur zweiten Corona-Welle: ‚Ich hätte sofort lokal gegengesteuert‘“ am 17.11.2020 veröffentlicht wurde: https://www.berliner-zeitung.de/gesundheit-oekologie/interview-viola-priesemann-li.118934. Von Campact e.V. wurde im Sinne dieser Forderungen ein Offener Brief an die Bundes- und Landesregierungen online lanciert, der bislang fast 80.000 Unterstützer gefunden hat: https://aktion.campact.de/corona/appell/teilnehmen?utm_source=homepage&utm_medium=cms.

[11] Vgl. Geht das jetzt immer so weiter? In: Die Zeit 17.11.2020, https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-11/corona-politik-impfung-lockdown-kontaktverfolgung-pandemiekontrolle-strategien.

[12] Corona-Warn-App: Downloads überschreiten 22-Millionen-Marke, in: connect 17.11.2020, https://www.connect.de/news/corona-warn-app-download-zahlen-3200860.html.

[13] Vgl. Push-Nachricht: “Einmal durchlüften, bitte!”, in: Süddeutsche Zeitung 19.11.2020, https://www.sueddeutsche.de/digital/corona-app-cluster-1.5120356.

[14] So die Zahlen des Politbarometers vom 13.11.2020: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/politbarometer-rueckhalt-fuer-geltende-massnahmen-100.html?slide=1605210718767.

[15] Wie sinnvoll sind Massentests? In: Der Spiegel 20.11.2020, https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-strategie-in-oesterreich-wie-sinnvoll-sind-massentests-a-a22f1ab1-b2ca-4413-b953-88bb7ff9288c#ref=rss?sara_ecid=soci_upd_wbMbjhOSvViISjc8RPU89NcCvtlFcJ.

[16] Mehr Infektionen, weniger Isolation, in: Der Spiegel 12.11.2020, https://www.spiegel.de/panorama/bildung/schulen-in-der-coronakrise-mehr-infektionen-weniger-isolation-a-0e12ba63-2ad2-4f43-a516-c73e5731f040#ref=rss?sara_ecid=soci_upd_wbMbjhOSvViISjc8RPU89NcCvtlFcJ.