Über Stephan Glienke

Der Autor ist promovierter Politikwissenschaftler und Zeithistoriker. Er schreibt als freier Journalist über Zeitgeschichte und zum aktuellen Zeitgeschehen.

“Kammer-” oder “Hofmohr”

Adlige und kirchliche Würdenträger, die im 18. und auch noch bis Mitte des 19. Jahrhundert etwas auf sich hielten, zählten zu ihrem Gefolge nicht selten einen afrikanischen Diener. Der „Kammer-” oder „Hofmohr“* war ein exotisches Prestigeobjekt, das nach außen Luxus, Wohlstand, Exklusivität und Weltläufigkeit illustrieren sollte. Der Kammerdiener symbolisierte als exotischer Lakai die weltweiten Fernhandels- und Machtbeziehungen seines Eigentümers. Üblicherweise als Sklave nach Europa verschleppt oder Fürsten von orientalischen Herrschern zum Geschenk gemacht, wurden afrikanische Kinder an europäischen Höfen zu Dienern ausgebildet. Sie waren weiterhin unfrei und an ihren Herren gebunden, erhielten jedoch im Gegenzug üblicherweise eine umfangreiche Bildung und erlernten oft zahlreiche Fremdsprachen. So stiegen die als Sklaven verschleppten, an Fürstenhöfen bestens ausgebildeten afrikanischen Diener nicht selten in höchste Vertrauenspositionen auf.

Kaufmann Heinrich Carl von Schimmelmann (links), König Christian VI. von Dänemark (rechts)

Bekannte Kammermohren waren Angelo Soliman, Ignatius Fortuna oder auch Abraham Petrowitsch Hannibal.

Angelo Soliman

Der aus Nigeria stammende Soliman war nach der Niederlage seines Stammes von den siegreichen afrikanischen Gegnern an europäische Sklavenhändler verkauft und über Umwege auf den alten Kontinent verschleppt worden. Seine Karriere als Kammerdiener begann er 1734 bei dem österreichischen Fürsten Johann Georg Christian von Lobkowitz. 1773 brachte er es schließlich zum Prinzerzieher bei Fürst Franz Josef von Liechtenstein. Soliman war als der „hochfürstliche Mohr“ und „Cammerdiener“ des Fürsten von Liechtenstein der wohl berühmteste Hofmohr Wiens und begleitete seinen Fürsten zu Audienzen und auf Feldzügen. Wie die meisten seiner afrikanischen Kollegen hatte er eine umfassende Bildung erhalten und sprach neben seiner Muttersprache auch Deutsch, Italienisch, Französisch, Englisch, Latein und Tschechisch. Er war durch sein angenehmes Auftreten bekannt und führte fast freundschaftliche Beziehungen zum Sohn Kaiser Josephs II. Dies hinderte diesen jedoch nicht dran, Soliman nach seinem Tod auf Wunsch des Kaisers präpariert und ausgestopft** im Naturalienkabinett zur Schau zu stellen.

Ignatius Fortuna

Ignatius Fortuna wurde vermutlich in Surinam geboren und war als Kind von einem Kaufmann aus Essen in das dortige Reichsstift gebracht worden. Dort wurde er christlich erzogen, getauft und an den geistlichen Landesherrn übergeben. Über Umwege  landete er schließlich bei der Essener Fürstäbtissin Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach, wo er in eine Vertrauensstellung aufstieg (vgl. dazu die Illustration zu Beginn des vorangegangenen Blogbeitrags).

Abraham Petrowitsch Hannibal

Wie bei Ignatius Fortuna ist auch die Herkunft von Abraham Petrowitsch Hannibal nicht eindeutig belegt. Die Quellen nennen abweichend Eritrea und Kamerun als Herkunftsort. Anfang des 18. Jahrhunderts war er als Junge vom russischen Gesandten Graf Tolstoi  in Konstantinopel gekauft, später in den Dienst des russischen Zaren Peter I. getreten und begleitete diesen auf allen seinen Feldzügen. Auch Abraham wurde eine umfängliche Ausbildung ermöglicht. Mit zweiundzwanzig Jahren schickte man ihn nach Paris. Dort trat er in den Dienst der französischen Armee ein und wurde im Feldzug gegen Spanien im Jahre 1720 zum Leutnant befördert. Ferner besuchte er die Pariser Ingenieursschule und verließ sie im Rang eines Kapitäns. Schließlich kehrte er nach Russland zurück und diente als Leutnant in einem von Zar Peter I. befehligten Artillerieregiment. Er starb schließlich als Großgrundbesitzer in Russland.

Mensch und Objekt – die ambivalente Stellung der “Hofmohren”

Die nach Europa Verschleppten wie Angelo Soliman und Ignatius Fortuna wurden christlich getauft und erhielten von ihren Herren neue Familien- und Rufnamen. Nur diese sind üblicherweise überliefert. Ob die Betroffenen, die oft schon im Kindesalter verschleppt worden sind, um ihre ursprünglichen Namen wussten, ist nicht bekannt. Auch im Einzelfall lassen sich die Namen aus der afrikanischen Heimat nur schwer ermitteln. Sinn und Zweck mag mit Sicherheit gewesen sein, den afrikanischen Diener nach Gutdünken nicht nur mit prächtig-bunter Uniform auszustaffieren, um dem Wunsch nach Exotik zu entsprechen, sondern ihn sich über den neuen Namen zusätzlich zu Eigen zu machen. Für die Betroffenen bedeutete dies, dass die Brücken in die alte Heimat, und sei es auch nur die Verbindung über den Namen, abgebrochen wurde. Dieser Bruch wirkt bis heute nach. So zeigt sich in der Befassung mit dem Thema die Schwierigkeit, nicht nur den ursprünglichen Namen, sondern in manchen Fällen auch die tatsächliche Herkunftsregion des Einzelnen zu ermitteln.

Der Fall von Angelo Soliman steht stellvertretend für die ambivalente Haltung gegenüber den “Hofmohren”. Soliman war hoch gebildet, allgemein geachtet, gern gesehen im Umgang mit den gekrönten Häuptern und Fürsten Europas – doch hinderte dies den Kaiser in Wien nicht daran, ihn nach seinem Tode präparieren und ausstopfen zu lassen, um ihn im kaiserlichen Naturalienkabinett, halbnackt, mit Federn und Muschelketten geschmückt zwischen Tierpräparaten auszustellen. Auf der einen Seite war Soliman der kultivierte, gebildete Diener, der sich in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen bewegte. Auf der anderen Seite wurde er nach seinem Tod präpariert und ausgestopft wie eine Jagdtrophäe in einer seiner Person nicht entsprechenden Verkleidung als unzivilisierter Wilder – die Rückverwandlung eines Menschen zum Objekt, als das er nach Europa verschleppt worden war. Trotz der Proteste seiner Angehörigen, die ein christliches Begräbnis für Soliman forderten, wurde sein präparierter Leichnam weiter im Naturalienkabinett belassen.

Anmerkung:

*Die Begriffe “Hof-” und “Kammermohr” sind Kinder ihrer Zeit, Fremdzuschreibungen mit negativer Konnotation. Wir widmen ihr in einem späteren Beitrag im Rahmen des BHM2021 einen Exkurs.

**Der schockierende Begriff “ausgestopft” wurde bewusst verwendet, da er der Behandlung des Leichnams nach Art einer Tierpräparation entspricht und so den menschenunwürdigen Umgang sprachlich verdeutlicht.

Illustrationen aus Wikimedia:

https://de.wikipedia.org/wiki/Diener#/media/Datei:Heinrich_Carl_Schimmelmann_1773.jpg

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2b/Christian_VI_med_tjener.jpg

Afrodeutsche Geschichte – verdrängt und ausgeblendet

Die Geschichte Schwarzer Menschen in Deutschland und Europa ist zum Gutteil noch immer geprägt von der Kolonialgeschichte. Dabei hat die Perspektive in Deutschland eine Besonderheit nämlich die vergleichsweise kurze Kolonialgeschichte. Damit einher geht fast zwangsläufig die Wahrnehmung, dass Kolonialgeschichte und in diesem Zusammenhang nach Deutschland migrierte Afrikaner allein zahlenmäßig gar nicht so relevant gewesen seien und ihre Präsenz keinen nachhaltigen Einfluss auf die deutsche Gesellschaft gehabt haben könne. Eine kleine, kaum sichtbare Minderheit also.

“Kammermohr” Ignatius Fortuna mit Fürstin Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach

Seit Jahrhunderten in Deutschland

Tatsächlich lebten Afrikaner und Afrodeutsche aber seit hunderten von Jahren in Deutschland und nicht erst seit Errichtung der deutschen Kolonien in Afrika 1884. Afrikaner gelangten Anfang des 18. Jahrhunderts als „Kammer-„ oder „Hofmohren“*

an die europäischen Fürstenhöfe. Prächtig ausstaffiert und umfassend gebildet dienten Kammermohren Herrschern, kirchlichen Würdenträgern und wohlhabenden Kaufleuten als exotisches Statussymbol. Da wäre Anton Wilhelm Amo (geb. ca. 1703, verst. Nach 1753) aus Ghana. Als Kind versklavt, von der Niederländisch-Westindischen Gesellschaft nach Amsterdam verschleppt und an Herzog Anton Ulrich von Braunschweig und Lüneburg-Wolfenbüttel verschenkt. Amo machte zunächst „Karriere“ als sogenannter „Kammermohr“, erhielt eine umfassende humanistische Ausbildung, studierte in Halle und Wittenberg Philosophie und Rechtswissenschaft, promovierte schließlich 1734 in Wittenberg und lehrte in Wittenberg und Jena.

Aus den Kolonien

Mit der Errichtung deutscher Kolonien kamen jedoch zum ersten Mal AfrikanerInnen in größerer Zahl nach Deutschland. Durch den Ausbau der Kolonialherrschaft entstand ein erhöhter Bedarf an Fachkräften für Verwaltung und Wirtschaft und so gelangten zahlreiche junge AfrikanerInnen zur Ausbildung nach Deutschland, besuchten deutsche

Askari, Deutsch-Ostafrika, beim Übungsschießen, ca. 1914-1918

Schulen, studierten an deutschen Universitäten, oder wurden an Missions- und Kolonialschulen ausgebildet als Handwerker, Facharbeiter oder Missionslehrer zum Einsatz in den deutschen Kolonien. Einige waren als Köche, Stewards oder Heizer der deutschen Schifffahrtslinie tätig, die zwischen Deutschland und den Kolonien verkehrte, arbeiteten als Sprachgehilfen, gelangten als ehemalige Angehörige der deutschen Schutztruppen nach Deutschland oder wurden als afrikanische Hausangestellte von Kaufleuten oder Afrikareisenden mitgebracht.

Völkerschauen

Schon vor Errichtung der deutschen Kolonien gelangten Afrikaner über die bereits bestehenden Handelskontakte nach Deutschland, andere wurden als lebende „Ausstellungsstücke“ im Rahmen der seit 1874 u.a. von Carl Hagenbeck organisierten „Völkerschauen“ präsentiert. So gelangte auch Martin Dibobe nach Deutschland. Der Sohn eines Häuptlings der Duálá war 1896 als einer von hundert Afrikanern aus den deutschen Kolonien nach Europa gebracht worden, um sechs Monate lang im Rahmen einer Völkerschau der Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park in dem Nachbau eines afrikanischen Dorfes „afrikanisches Alltagsleben“ darzustellen, bzw. das, was sich die Deutschen unter afrikanischem Alltagsleben vorstellten. Nach Ende der Ausstellung blieb Dibobe in Deutschland, machte eine Ausbildung und landete zunächst als Zugführer, schließlich als Fahrer bei der Berliner U-Bahn.

Andere kamen nur für einige Jahre nach Deutschland, zur Ausbildung, oder um einige Zeit im Land zu arbeiten. Mdachi bin Scharifu reiste 1913 aus der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika (heute Tansania) nach Berlin und arbeitete als Sprachlektor am Seminar für Orientalische Sprachen an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Er kehrte 1920 nach Ostafrika zurück.

Gustav Sabac el Cher, der Nachfahre eines „Hofmohren“, war in Berlin aufgewachsen, machte in der Kaiserzeit Karriere als Militärmusiker bei der Preußischen Armee und später als Dirigent beim Rundfunk. Seine Söhne dienten im Zweiten Weltkrieg in der Wehrmacht, ein Enkel landete in einer Napola, einem als NS-Kaderschmiede ausgelegten Internat.

Bayume Mohamed Husen, war als ehemaliger afrikanisch-deutscher Askari 1929 nach Deutschland gelangt. Hier gründete er eine Familie, arbeitete als Kellner, Sprachlektor und Schauspieler. Im August 1941 verhaftete ihn die Gestapo wegen des Vorwurfs der „Rassenschande“. Er wurde in das Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht, wo er drei Jahre später starb. Insgesamt wird die Zahl der in Konzentrationslagern ermordeten Menschen afrikanischer Herkunft auf 2.000 geschätzt. Nicht einberechnet sind dabei die in den Kriegsgefangenenlagern inhaftierten Black Americans und afrikanischen Soldaten der französischen, belgischen und britischen Truppen.

Gemiedenes Thema

Noch immer wird afrodeutsche Geschichte in der breiten Öffentlichkeit unzureichend wahrgenommen. Sie wird zumeist auf die Kolonialzeit beschränkt, die ihrerseits kaum aufgearbeitet ist. Die Zeit des Nationalsozialismus wird oft komplett ausgeblendet. Afrodeutsches Leben wird aufgrund des insbesondere in dieser Zeit herrschenden und vom NS-Regime gesteuerten, geförderten oder protegierten Rassismus schlichtweg für unmöglich gehalten. Erst allmählich tasten sich Medien und Gesellschaft an die Thematik heran, wie die lokalen Auseinandersetzungen (bzw. der Versuch ihrer Vermeidung) zu Straßennamen mit kolonialer Vergangenheit nur all zu deutlich illustrieren. Allein der Umbenennung der Berliner „Mohrenstraße“ in „Anton-Wilhelm-Amo-Straße“ im August 2020 ging eine jahrelange Auseinandersetzung voraus. Die Änderung des Namens “Mohrenstraße” bei der am Ort befindlichen U-Bahn-Haltestelle hingegen scheiterte.

Anmerkung: 

*Die Begriffe “Hof-” und “Kammermohr” sind Kinder ihrer Zeit, Fremdzuschreibungen mit negativer Konnotation. Wir widmen ihr in einem späteren Beitrag im Rahmen des BHM2021 einen Exkurs.

Quellenangaben zu den llustrationen:

“Kammermohr”: https://de.wikipedia.org/wiki/Kammermohr#/media/Datei:Francisca_Christina_of_the_Palatinate-Sulzbach._Princess-Abbess_of_Essen_and_Thorn.jpg

Askari: https://en.wikipedia.org/wiki/Askari#/media/File:Bundesarchiv_Bild_105-DOA3049,_Deutsch-Ostafrika,_Askari_beim_Übungsschießen.jpg

Gustav Sabac el Cher: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Gustav_Sabac_el_Cher.jpg&filetimestamp=20160217161640&

Stolperstein: https://de.wikipedia.org/wiki/Bayume_Mohamed_Husen#/media/Datei:Stolperstein_Brunnenstr_193_(Mitte)_Bayume_Mohamed_Husen.jpg

Black History Month

Der „Black History Month“ wird alljährlich im Februar insbesondere in Kanada und den USA begangen. Er geht auf den Historiker Carter G. Woodson zurück. Die von ihm mitbegründete „Association for the Study of Negro Life and History“ (ASNLH) widmete 1926 erstmals die zweite Februarwoche der Geschichte der Black Americans. Ziel und Zweck war es, die breite Öffentlichkeit auf den Beitrag von Afroamerikanern zur Geschichte Amerikas aufmerksam zu machen.

Seit der Ermordung von Abraham Lincoln hatte die Black Community ohnehin bereits jedes Jahr im Februar den Geburtstag des US-Präsidenten gefeiert, der die Abschaffung der Sklaverei in den USA initiiert hatte. Was lag also näher, als die Woche zur Geschichte der Black Americans in diese Zeit zu legen? Zumal eine weitere Schlüsselfigur der Emanzipation der Black Americans, der Bürgerrechtler Frederick Douglass, ebenfalls in derselben Woche Geburtstag hatte. Seit 1926 wurde die Woche ausdrücklich der Geschichte und Traditionen der Black Americans gewidmet.

Die Idee wurde von Schulen und Gemeinschaften im ganzen Land aufgegriffen, die in ihren Gemeinden Geschichtsvereine gründeten und Veranstaltungen zum Thema initiierten. In den Folgejahren wurden in Städten im ganzen Land jeweils im Februar Veranstaltungen durchgeführt. Seit 1976 wird der Monat Februar als „Black History Month“ landesweit begangen.

Inzwischen wird der Monat in vielen Staaten der Erde zum Anlass genommen für Themenreihen, Veranstaltungen, Schwerpunktsendungen, Ausstellungen und vieles mehr – so etwa in Kanada und im Vereinigten Königreich.

created by Stephan A. Glienke

In Deutschland wird der Black History Month erst seit den 1990er Jahren von der Black Community gefeiert. Auch hier war und ist es das Ziel, Black History ein Gesicht zu geben. Dabei geht es u.a. darum, die Errungenschaften afrodeutscher Persönlichkeiten bekannt zu machen. Von Beginn an engagierten sich Kulturschaffende und Menschen aus dem Bildungsbereich, Dichter:Innen, Autor:Innen und Aktivist:Innen.

Erst in den vergangenen Jahren erhielt die deutsche Kolonialgeschichte auch in der breiten Öffentlichkeit zunehmend Aufmerksamkeit. Die Geschichten wie die der Familie des Schauspielers Theodor Wonja Michael zeigen jedoch deutlich, dass entgegen landläufiger Meinung, afrodeutsches Leben in Deutschland keine Sache der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart ist; sie lässt sich nicht einmal auf die Phase der deutschen Kolonialgeschichte beschränken. Afrodeutsches Leben in Deutschland hat eine über mehrere Jahrhunderte zurückreichende Geschichte. Das zeigen Familiengeschichten wie die von Anton Wilhelm Amo, der Familie Sabac el Cher, von Martin Dibobe oder eben von Theodor Wonja Michael.

Der Black History Month soll diese Geschichte und den Beitrag der Afrodeutschen zur Geschichte in Deutschland stärker ins Licht rücken, Bewusstsein schaffen und nicht zuletzt das Thema so etablieren, dass die Beschäftigung nicht nur zeitlich auf den Monat Februar beschränkt bleibt. Weitere Texte zu diesem Thema hier im Blog sollen dazu einen kleinen Beitrag liefern.

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Studentischer Protest 1960 – Die späte Anerkennung

Erstveröffentlichung dieses Textes in dem Blog
ZETT-UND-ZETT. Zeitgeschichte und Zeitgeschehen

Es ist der 18. Januar 1960. Auf dem Berliner Steinplatz, unweit des Bahnhof Zoo, versammeln sich nahezu 3.000 Studierende, Professorinnen und Professoren der Westberliner Hochschulen. Sie protestieren gegen Antisemitismus und Neonazismus, gegen die antisemitischen Zwischenfälle des Winters 1959/60 und gegen wiederamtierende “Ehemalige” – namentlich gegen Schröder, Globke und Oberländer: Karl Heinz Globke, maßgeblicher Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und Kanzleramtschef unter Konrad Adenauer; Theodor Oberländer, der als sogenannter “Ostforscher” Denkschriften und Expertisen zur Legitimation der Zwangsumsiedlungen der Zivilbevölkerung in Osteuropa verfasst und es in der Regierung Adenauer zum Vertriebenenminister geschafft hatte; und Gerhard Schröder, Bundesinnenminister und seit der Vorlage des ersten Entwurfs der Notstandsgesetze im Jahre 1958 in der Kritik.

Unzählige Grabsteinen auf jüdischen Friedhöfen waren seit Weihnachten 1959 in ganz Westdeutschland geschändet, Synagogen mit Hakenkreuzen verunstaltet worden. Die Presse im In- und Ausland berichtete ausführlich und spätestens seit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess zwei Jahre zuvor war klar: Eine noch unbekannte Zahl von NS-Verbrechen war bislang ungeklärt und ungeahndet und ehemalige Funktionäre des NS-Regimes besetzen hohe Positionen in Regierung, Verwaltung und saßen auf den Richterstühlen. Für die junge Generation war sehr offensichtlich, was im Land im Argen lag. Der Protest am 18. Januar war öffentlicher Ausdruck dieses Unbehagens und zugleich eine Forderung nach einer Änderung der Verhältnisse.

Die Abwehr dieser Proteste folgte einer Struktur, die auch heute noch bekannt ist: die Akteure zu jung, zu unwissend, zu naiv. Die Gruppe, die sie repräsentierten zu klein. Von immerhin 20.000 Studierenden der Westberliner Hochschulen hatten nur 3.000 an dem Protest teilgenommen. Wer nicht still und betroffen der Opfer des Nationalsozialismus gedachte, sondern auf Missstände der Gegenwart hinwies und Namen nannte, der hatte zweifelsohne Hintermänner in der DDR, besorgte das Geschäft der Kommunisten. “Mit Anhängern des Nationalsozialismus werden wir in Berlin auch ohne kommunistische Hilfe fertig”, so der Westberliner Innensenator Joachim Lipschitz.

Nicht nur auf Demonstrationen und Protestmärschen wiesen die Studierenden auf die Missstände hin. In Petitionen an den Deutschen Bundestag und an die Länderparlamente im Jahr zuvor, hatten Studierende aus dem gesamten Bundesgebiet um Aufklärung über die Wiederverwendung ehemaliger NS-Justizjuristen im Justizdienst der Bundesrepublik gebeten. An der Freien Universität Berlin wurde die Petition von einer Unterschriftenaktion begleitet, zugleich stellten Studierende verschiedener Studentenverbände eine historisch-politische Ausstellung aus Akten der NS-Sondergerichte zusammen, um die Öffentlichkeit über die Vergangenheit ehemaliger NS-Richter und Staatsanwälte und ihre Tätigkeit in der Nachkriegsjustiz aufzuklären.

Die Unterschriftenaktion zur Stützung einer Petition an den Deutschen Bundestag begegnete an der Freien Universität zahlreichen Verboten. Sie durfte auf dem Gelände der Universität nicht durchgeführt werden, so sammelten die Studierenden Unterschriften vor der Mensa. Die Hochschulleitung der Freien Universität Berlin ging gegen den AStA vor und sprach diesem als Gremium der universitären Selbstverwaltung das Recht auf politische Meinungsäußerung ab.

Als die von den Studierenden erarbeitete Ausstellung im Februar 1960 unter dem Titel „Ungesühnte Nazijustiz“ in Westberlin präsentiert werden sollte, schlug den Studierenden heftige Gegenwehr entgegen. Insbesondere der damalige Justizsenator Valentin Kielinger und die ihm unterstehende Senatsverwaltung für Justiz brachten sich gegen die Studierenden in Stellung. Der Leitung der Westberliner Hochschulen wurde eindringlich geraten, den Studierenden keine Räume zur Verfügung zu stellen. Der Kultursenator rief die Westberliner Lehrer dazu auf, sich von der Ausstellung fern zu halten. Als schließlich die “Galerie Springer” den Studierenden Räume am Kurfürstendamm zur Verfügung stellte, wurde versucht, auf die Vermieterin des Galeristen Rudolf Springer einzuwirken, um auch dort die Ausstellung zu untersagen – dieses Mal jedoch ohne Erfolg. Die Ausstellung fand statt, am Kurfürstendamm 16, im Herzen Berlins und zog die Aufmerksamkeit der in Westberlin zahlreich vertretenen internationalen Presse auf sich.

Nun kann man sich diese Ausstellung, die von Studierenden mit denkbar geringen finanziellen Mitteln erstellt worden ist, nicht einfach genug vorstellen. Knapp Hundert einfache Aktenordner, gefüllt mit den Kopien von Verfahrensprotokollen der NS-Sondergerichte, dazu handschriftliche Anmerkungen und maschinenschriftliche Listen mit den Namen der beteiligten Juristen, ihrer ehemaligen Funktion und ihrem neuen Tätigkeitsort in der westdeutschen Justiz. Die Kopien hatte der Initiator der “Aktion Ungesühnte Nazijustiz”, der Westberliner Student Reinhard Strecker, aus Archiven aus Ostberlin, Warschau und Prag geholt, die Angaben wo in Westdeutschland und Westberlin die einzelnen an den teilweise haarsträubenden NS-Urteilen beteiligten Richter und Staatsanwälte wieder Dienst taten gemeinsam mit Mitstudierenden anhand der Handbücher der Justiz geprüft. Die so erarbeiteten Listen und Urteile wurden in Ausstellungen in Karlsruhe, Westberlin, Stuttgart, Kiel, Hamburg, München, Freiburg/Brsg., Göttingen, Tübingen und schließlich auch in Oxford, Leiden und Utrecht, sowie auf Einladung eines überparteilichen Komitees im britischen Unterhaus präsentiert.

In Zeiten von Whatsapp, Twitter, Facebook und Internet kann es nur erstaunen, welche Reichweite die Studierenden mit diesen einfachen Mitteln erreichten. Anfang der 1960er Jahre war es dieser Gruppe engagierter Studierender gelungen, mit einer Wanderausstellung zur NS-Justiz eine politische und öffentliche Debatte zum politischen und justizpolitischen Umgang mit wiederamtierenden ehemaligen NS-Justizjuristen anzuregen. Tageseitungen im In- und Ausland berichteten, ebenso Rundfunk und Fernsehen.

Die Gegenwehr war zunächst gewaltig. Den Studierenden wurde nach überkommenem Duktus ihre Jugend vorgeworfen und politische Naivität unterstellt. Sie seien entweder von Hintermännern aus Ostberlin gesteuert, oder leisteten den propagandistischen Zielen des Ostens Vorschub. Insbesondere die Westberliner Senatsverwaltung für Justiz unter ihrem Justizsenator Valentin Kielinger tat sich mit Angriffen gegen die Studierenden hervor. Insbesondere der Initiator Reinhard Strecker stand im Zentrum der Angriffe. Auch als der amtierende Generalbundesanwalt Max Güde schon längst die Authentizität der ausgestellten Unterlagen bestätigt hatte, wurde Justizsenator Kielinger nicht müde, die Studierenden und die Ausstellung in der Öffentlichkeit weiterhin als von “sowjetzonaler Seite inspiriert” zu diskreditieren.

Was als Aktion eines einzelnen Studenten, der sich aus reinem Interesse an der Thematik in das Thema “eingegraben” hatte begann, zog bald mehr und mehr Studierende an. Sie studierten in ihrer Freizeit Akten, stellten Material zusammen und organisierten Ausstellungen in der ganzen Republik. Es gelang ihnen, gegen alle Widerstände eine in der Bonner Republik gern unter der Decke gehaltene Thematik aufs politische Tapet zu bringen. Demonstrationen, öffentlicher Protest, Petitionen an Bundestag und Länderparlamente, Ausstellungsaktionen, ein umfangreiche Berichterstattung in den Medien und nationale und international Aufmerksamkeit. So in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, waren Bundestag und Bundesrat, Landesregierungen und -Parlamente gezwungen, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen.

Mit dem Paragraph 116 des Deutschen Richtergesetzes vom 8. September 1961 wurde schließlich eine Regelung geschaffen, das vorzeitige Ausscheiden politisch belasteter Justizjuristen zu ermöglichen. Auch dieses Gesetz ging sehr milde mit den ehemaligen NS-Juristen um, basierte auf Freiwilligkeit und ermöglichte das Ausscheiden bei vollen Bezügen, aber im Vergleich zum vorherigen Beschweigen und Verleugnen war es für die damalige Zeit ein großer Schritt. Den Ausgang nahm dies alles bei einigen Studierenden, die sich für ein ihnen am Herzen liegendes Thema engagierten und Politik beeinflussen wollten.

Die Kritiker des Studentenprotests hatten sich damals auf den Initiator Reinhard Strecker `eingeschossen´. Er hatte die Aktenkopien aus Ostberlin, Prag und Warschau besorgt, er war das Gesicht des Protests. Anerkennung für seine Verdienste hatte er über die Jahre nur in Form von Zuspruch seiner ehemaligen Kommilitonen erhalten, sowie durch die Würdigung der Aktion in der historiographischen Literatur. Der Kampf um eine offizielle Würdigung dauerte Jahre. Erst im August 2015, über 55 Jahre nach Eröffnung der Ausstellung “Ungesühnte Nazijustiz” in Berlin, wurde ihm in Anerkennung seiner Verdienste um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit das Bundesverdienstkreuz verliehen. Dennoch dauerte es noch bis zum April 2019, bis sich der amtierende Berliner Justizsenator Dirk Behrendt für die Angriffe seines Amtsvorgängers Valentin Kielinger gegen Reinhard Strecker und die “Aktion Ungesühnte Nazijustiz” entschuldigte. Im November 2019 wird wiederum die Stadt Karlsruhe, deren Stadtoberen im November 1959 noch gegen die Eröffnung der Ausstellung in der Karlsruher Stadthalle, dem ersten Ausstellungsort der Wanderausstellung, vorgegangen waren, die “Ungesühnten Nazijustiz” im Rahmen eines Symposiums ehren – Jahrzehnte nach der Aktion, nach Jahrzehnten, die Reinhard Strecker zwischen Zuspruch und Anfeindung erlebt hat.

Die Geschichte der “Aktion Ungesühnte Nazijustiz” macht nachdenklich und weckt Hoffnung. Sie stimmt nachdenklich, weil hier exemplarisch die Macht des Status Quo gegenüber progressiven Kräften deutlich wird, mit welchen Mitteln gegen Kritik und Protest vorgegangen wird. Sie weckt Hoffnung, weil sie anschaulich verdeutlicht, wie mit geringsten Mitteln die Öffentlichkeit aufgerüttelt und politische Verhältnisse geändert werden können. Es ist eine Thematik, die im Hinblick auf die aktuellen Proteste von Schülerinnen und Schülern für das ihnen am Herzen liegende Thema “Klimawandel” nicht zeitgemäßer sein kann. Wer den Wandel will, muss sich engagieren und wer sich engagiert, kann Politik beeinflussen und Themen setzen. Sie zeigt aber auch, dass die Argumente und Mittel gegen Jugendproteste sich wiederholen, sich die Strukturen der Abwehr immer gleichen. Die Argumente zielen immer auf die Jugend der Akteure ab, unterstellen Weltfremde, Naivität, vermuten Hintermänner und Strippenzieher. “Ihr seid ja nicht dabei gewesen!” – “Geht lieber in die Schule und lernt erst mal was ordentliches!” – “Ihr besorgt das Geschäft der Feinde der Demokratie!” Die Argumente der Abwehr gleichen sich. Doch wer die Strukturen der Abwehr erkennt, kann sich ihrer erwehren, und wer mit Überzeugung und Engagement auf politische und gesellschaftliche Defizite hinweist und den Wandel einfordert, der kann den Wandel erreichen. Das sind die großen Lehren der “Aktion Ungesühnte Nazijustiz”.

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Nähere Informationen zur Aktion “Ungesühnte Nazijustiz” unter:

Stephan Glienke: Die Ausstellung “Ungesühnte Nazijustiz” (1959-1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2008.

Stephan Glienke: Studenten gegen Nazi-Richter. In: SPIEGEL ONLINE 24.02.2010

https://www.spiegel.de/einestages/nachkriegsskandal-a-948742.html

Erstveröffentlichung dieses Beitrags am 24.4.2019 in dem Blog “ZETT-UND-ZETT. Zeitgeschichte und Zeitgeschehen”, Direktlink:

Studentischer Protest 1960 – Die späte Anerkennung